Das kleine Mädchen zeigt begeistert auf ein großes, blau-weißes Zelt, das zwischen einigen Wägen und sonstigen Behausungen aus Brettern und Planen auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg steht. „Guck mal, Mami, ein Zirkus“, ruft das Kind mit leuchtenden Augen. Doch die Mutter wirkt genervt. „Komm weiter“, herrscht sie ihr Kind an, nimmt es an der Hand und beschleunigt ihre Schritte. Zwischen den Zelten tritt ein Afrikaner hervor. In Badelatschen, kurzer Hose und Muskelshirt überquert er den Weg und verrichtet an der gegenüberliegenden Hecke sein Geschäft. Dann schlurft er zum Lager zurück.
Seit einem dreiviertel Jahr hausen er und rund einhundert weitere Schwarze auf dem Platz mitten in Kreuzberg. Hergelockt haben sie linke Abschiebegegner. Mit einem „Marsch der Würde“ waren die Afrikaner im vergangenen Herbst in die Hauptstadt gezogen, um vor dem Brandenburger Tor gegen Abschiebungen und die Residenzpflicht zu demonstrieren. Und da sie nach eigenen Angaben gekommen waren, „um zu bleiben“, siedelten sie Anfang Oktober nach Kreuzberg über, wo ihnen der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz gestattete, auf dem Oranienplatz zu kampieren.
In den Wintermonaten stellte er ihnen ein Schulgebäude zur Verfügung. Seitdem haben sich die Afrikaner in ihrem Lager eingerichtet – zum Leidwesen der Anwohner, die laut Polizei über den Qualm der Heizöfen und Lagerfeuer sowie Lärm klagen. Auch die hygienischen Zustände sorgen für Unmut. Von stinkendem Müll und auslaufenden Fäkalien rings um den improvisierten Toilettenwagen ist die Rede. Auch soll im Lager mit Drogen gehandelt werden. Ladenbesitzer klagen hinter vorgehaltener Hand über Umsatzeinbußen. Doch offen sprechen will niemand.
Massiver Polizeieinsatz
Es ist heiß an diesem Tag, über 30 Grad Celsius. Die Luft steht drückend über der kleinen Zeltstadt. Mehrere Schwarze hocken auf Campingstühlen, alten Sofas und Bierbänken im Schatten der Bäume. Einige telefonieren mit ihren Mobiltelefonen, ein anderer wechselt den Reifen seines Mountainbikes. Ein langgewachsener Afrikaner schüttet schmutziges Spülwasser aus einem Plastikeimer auf den Weg und läßt sich danach ermattet ins Gras sinken. Etwas auf Abstand sitzen einige deutsche Obdachlose und schauen auf die leeren Bierkästen und Einkaufswagen, die überall im Lager herumstehen. Auf einer grünen Velourscouch döst barfuß ein junger Mann, aus irgendeiner Ecke des Camps dudelt ein Radio.
So friedlich und ruhig war es zwei Tage zuvor nicht. Mit 250 Beamten mußte die Berliner Polizei an diesem Abend anrücken, um eine Auseinandersetzung zwischen afrikanischen Flüchtlingen und türkischen Anwohnern unter Kontrolle zu bringen. Sechs Polizisten wurden dabei verletzt. Nur durch den Einsatz von Pfefferspray, Diensthunden und Schlagstöcken gelang es den Einsatzkräften, die Lage zu beruhigen. Ein 24 Jahre alter Türke hatte zuvor einen Afrikaner mit einem Messer angegriffen.
Nach Polizeiangaben wollte der junge Mann mit seinem sechs Wochen alten Kind und seinem Vater den Oranienplatz überqueren. Offenbar bedrängten einige Platzbesetzer den Familienvater und forderten ihn auf, zu verschwinden, worauf dieser ein Messer zog und einen 27 Jahre alten Afrikaner an der Brust verletzte. Nach der Tat flüchtete der Mann, zurück blieben sein Vater und das Kleinkind sowie dessen zwischenzeitlich herbeigeeilte Mutter, die von der Polizei nur unter erheblichem Aufwand vor den aggressiven und aufgebrachten Afrikanern in Sicherheit gebracht werden konnten. Die Flüchtlinge hatten gefordert, daß ihnen der Messerstecher ausgeliefert werde. Erst dann wollten sie im Gegenzug seine Familie freilassen.
Geschäftsleute haben Angst, als Rassisten zu gelten
Bei dem Einsatz wurden die Polizisten zum Teil massiv bedrängt, mit Holzlatten bedroht und mit Flaschen beworfen. Dennoch warfen linke Unterstützer des Flüchtlingscamps der Polizei im Anschluß vor, aggressiv und rassistisch vorgegangen zu sein.
Vor einer nahe gelegenen Teestube stehen zwei Türken und schauen mißmutig in Richtung des Camps. Drinnen sitzen ältere Männer und spielen Domino. Fremde werden argwöhnisch beäugt. Auf die Flüchtlinge angesprochen, winkt der Wirt ab. „Ich bin nicht da“, sagt er und dreht sich weg. Ähnlich verhält sich eine deutsche Ladenbesitzerin. Die Frage, ob die Afrikaner ein Problem seien, könne sich jeder selbst beantworten, der die Augen aufmache, meint sie. Mehr wolle sie dazu nicht sagen: „Ich sitze hier doch auf dem Präsentierteller.“
Auch der Besitzer eines Geschäfts ein paar Häuser weiter lehnt jeglichen Kommentar zu dem Zeltlager ab. Er wolle nicht als Rassist gelten. Lediglich die junge Kellnerin einer Bar ist begeistert: „Das ist gelebter Multikulturalismus. Die sind alle so freundlich und fröhlich“, erzählt sie. „Ich war selbst schon da und hab denen Kaffee gebracht.“
Frauen berichten von Vergewaltigungen
Doch ganz so harmonisch scheint es im Camp nicht immer zuzugehen. Auf der linksextremen Internetseite Indymedia berichtet eine frühere Unterstützerin von sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen. Auch sie sei Opfer geworden, ebenso zwei weitere Frauen. Doch anstatt Mitleid, erntet sie Haß: Solche Schilderungen spielten „Rassist_innen in die Hände“, schrieb ein anderer „Supporter“. Es sei „ekelhaft“, wie sie „die Vorurteile gegenüber den Geflüchteten“ nähre und ein Feindbild konstruiere. Vielleicht sollten Frauen im Lager anstatt „Bussi hier, Bussi da“ lieber wieder auf den „guten alten Händedruck“ zurückgreifen, riet ihr ein Kommentator.
Sexuelle Übergriffe sind jedoch nicht das einzige Problem im Lager. Wie die Polizei auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mitteilte, mußte sie in der Vergangenheit bereits mehrfach wegen Auseinandersetzungen zwischen „Campbewohnern beziehungsweise Unterstützern untereinander“ ausrücken. Es seien unter anderem Strafanzeigen wegen Körperverletzungen gestellt worden.
Ein junger Student, der unweit des Oranienplatzes wohnt, bestätigt die Vorfälle: „Da rastet immer mal wieder einer aus.“ Seinen Namen will er aber nicht nennen – aus Furcht, als „Nazi“ zu gelten. Außerdem habe er Verständnis für das Anliegen der Afrikaner. Deren Protest sei berechtigt, nur das monatelange Kampieren nerve ihn. Schließlich sei der Platz für alle da. Früher habe er mit Freunden abends dort auch mal ein Bier getrunken. Das sei nun nicht mehr möglich.
JF 27/13