Der Smog der Stadt schluckt den Ararat. Laster aus Sowjetzeiten tuckern geschäftig über Paradeplätze. Baulärm. Der Staub in der Luft wundert niemanden. Autos verstopfen jeden Winkel von Jerewan. Passanten schlendern in Todesverachtung über dicht befahrene Kreuzungen. Streuner mischen sich in die Menge. Aus dem Trubel ragen immer wieder glühend rot die Kirchen hervor. Es ist der Vulkanstein, der sie leuchten macht, so als kämen sie direkt aus dem gierigen Schlund der Erde. Selbst Schulkinder bekreuzigen sich beim Anblick der andächtig in sich versunkenen Bauten.
Orient, Okzident, West, Ost, Tradition, Moderne vermischen sich an den Ausläufern des Kleinen Kaukasus auf explosive Weise. Längst ist Armenien den Weltmächten aufgefallen. Rußland sieht sich als Schutzmacht der Republik. Die Achse Jerewan-Moskau gilt als Lebensader der Oligarchen. Zuletzt versagte der Kreml jedoch als Schild der Armenier. Aserbaidschan spricht nach deren Vertreibung aus Bergkarabach immer neue Drohungen aus, will „die Heimkehr der Aseris in ihr angestammtes Land“ nicht mehr „mit Panzern, sondern mit Autos“ vorantreiben, wie sich Präsident Ilham Alijew kürzlich ausdrückte.
Die Entdeckung Armeniens
Und auch die Amerikaner entdecken den ersten christlichen Staat der Geschichte nun für sich. Das Republic of Armenia Prayer Breakfast, an konservative Happenings in den Vereinigten Staaten angelehnt, soll das Land für westliche Player aus Politik, Wirtschaft und Kultur öffnen. Auch der prominente Redner Charlie Kirk hatte sich kurz vor seiner Ermordung angemeldet, was zeigt, wie hoch die Amerikaner die Konferenz ansetzen. Die junge freiheit mischt sich unter das über 300 Teilnehmer zählende Publikum. Der evangelikale Einschlag vieler Gäste – neben den USA auch aus Südafrika, Israel und den Niederlanden – ist unübersehbar. Im Schlepptau Konzerne, die gerne russische Geschäftspartner beerben würden.

Reformpremier Nikol Paschinjan versucht, aus dem Interesse das Beste zu machen und um neue Verbündete zu werben. Seit seinem Amtsantritt 2018 erlebt das Land einen ökonomischen Boom. „Es ist wichtig, daß sich die Menschen von Gott, von Jesus Christus und ihrer Beziehung zu ihm erzählen, gerade weil wir die erste christliche Nation der Welt sind“, betont er bei seinem Grußwort. „Mir ist aufgefallen, daß wir in Armenien viel vom Glaubensleben verpassen, weil wir an unseren Zeremonien zwar mit großem Ernst teilnehmen, dabei aber nicht die Möglichkeit haben, selbst aufzustehen – wir folgen nur.“ Geschickt spielt er mit dem Faszinosum seiner alten Religion, mimt den frommen Staatenlenker, den König David.
Kulturkampf im Kaukasus
Immer wieder staunen die Gäste darüber, wie frei Paschinjan aus der Bibel zitiert. Die Andacht kann auch als Seitenhieb auf die Armenisch Apostolische Kirche verstanden werden, deren Gemeindeleben stark von Traditionen geprägt ist. Mit ihr befindet sich Paschinjan schon seit geraumer Zeit in einer Art Kulturkampf. So sind denn auch auffällig wenige heimische Priester auf der Konferenz zugegen, einzig Bischof Findikyan fällt mit mahnenden Worten auf. Ein Legitimationsproblem, nennt sich das Ganze doch Prayer Breakfast, Gebetsfrühstück. Dem Klerus wirft der Premier vor, notwendigen Reformen im Weg zu stehen und als verlängerter Arm des Kremls zu agieren.
Anders wird das in Etschmiadsin beurteilt, dem Sitz der Armenisch-Apostolischen Kirche. Die ausländische Delegation der Prayer Breakfast-Konferenz erhält dort eine Audienz bei Katholikos Karekin II. – dem Kirchenoberhaupt. Dieser residiert unweit der 301 nach Christus vom „Aposten Armeniens“ Gregor dem Erleuchter gestifteten Kathedrale Majr Tatschar Surb Edschmiazin – dem Geburtsort des armenischen Christentums.

Von seinem marmornen Thron aus eröffnet seine Heiligkeit den Gästen, daß die Apostolische Kirche das „spirituelle, kulturelle und nationale Zentrum des Landes“ sei. Merke: Nicht die Republik, nicht die Regierung, nicht Nikol Paschinjan. Durch Jahrhunderte der Fremdherrschaft hätten Geistliche die Sitten und Bräuche der Armenier bewahrt. Auch damals habe es keinen armenischen Staat gegeben, in die Politik mische man sich daher nicht ein. Dennoch sei es erfreulich, Besucher aus dem Ausland zu haben. Auch das Prayer Breakfast betrachte man mit Wohlwollen.
Derlei Kritik wird aus der Konferenz heraus als „russisches Narrativ“ zurückgewiesen. Kein Narrativ ist es, daß im Moment rund ein Dutzend Geistliche, darunter auch Bischöfe, aufgrund verschiedener Anschuldigungen in Haft sitzen. Auch dieser Umstand läßt die Rede vom Prayer Breakfast wackelig erscheinen.
Zweifel in Washington
Nicht alle aus den Vereinigten Staaten angekündigten Gäste hat das andächtige Auftreten von Premier Paschinjan indes versöhnt. Ein Teil der Delegation – darunter auch Donald Trump Jr. – soll seine Teilnahme kurzfristig abgesagt haben. Der einstige Fox-News-Moderator Tucker Carlson publizierte kurz vor der Konferenz ein Interview mit schweren Vorwürfen gegen Jerewan.
STAY TUNED | 1:00 PM ET@TuckerCarlson spotlights Azerbaijan’s ethnic cleansing of Christian Armenians and the Armenian government’s escalating crackdown on the Armenian Apostolic Church. https://t.co/Bq96UeaeRQ
— ANCA (@ANCA_DC) November 7, 2025
„Diese kleine Gruppe von Leuten hat die Geschichte unseres Landes und unserer Kirche vergessen und greift nun diese Kirche und unser Volk an“, klagte dort der Neffe des Geschäftsmannes Samvel Karapetyan, der derzeit wegen Aufwiegelung gegen den Staat im Gefängnis sitzt. Da Karapetyan auch russischer Staatsbürger war, löste seine Verhaftung diplomatische Verstimmung aus. Der Anwalt des Milliardärs flankierte, bezog sich ausdrücklich auf das Republic of Armenia Prayer Breakfast: „Für mich ist dieses Ereignis nur ein ‘reputation-laundering Breakfast’ (zu deutsch ein Frühstück zum Reinwaschen Anm. d. Red.).“
Prayer Breakfast der Idealisten
Der Kriegsreporter Chuck Holton, seinerzeit Berichterstatter aus dem belagerten Bergkarabach, konterte im Namen der unbeirrten Konferenzgäste, nannte Carlsons Anschuldigungen „intellektuell unehrlich“. Dieser picke einzelne Fakten heraus, ignoriere Hintergründe und peitsche ein Publikum auf, das die Eigenheit armenischer Innenpolitik überhaupt nicht verstehen könne. Die neuen Verbündeten aus Übersee scheinen sich uneins zu sein, für wen im Kaukasus sie da eigentlich Partei ergreifen.

Auf der zivilgesellschaftlich angestoßenen Konferenz wird dafür um so reger über Facetten christlicher Politik im 21. Jahrhundert diskutiert. Die Podien widmen sich einer breiten Palette, von Abtreibungen über den jüngst geschlossenen Friedensdeal mit Aserbaidschan und die „Trump-Route“ bis zur Vereinbarkeit von Religion und Marktwirtschaft. Es herrscht Aufbruchstimmung, Gäste tauschen Visitenkarten aus, diskutieren klug über die Zukunft der Zwergnation, die sie alle so fasziniert.
„Die Geburtenmüdigkeit der Armenier ist das größte Problem des Landes“, warnt zum Beispiel Jacob Pursely, ein Missionar aus den Vereinigten Staaten, der seit Jahrzehnten in der Region arbeitet und zu den Organisatoren des Prayer Breakfast gehört. „Wenn wir das nicht lösen, brauchen wir uns mit der Bedrohung aus Baku nicht zu beschäftigen – dann sterben die Armenier von selbst aus.“
Wie helfen, ohne sich einzumischen?
Die Theologin Marianna Apresyan erwidert, vor allem auf dem Land gehe das Patriarchat mit einer Geringschätzung von Frauen Hand in Hand. Das sei einer gebärfreudigen Kultur abträglich. Andere Redner weisen auf die hohen Abtreibungsraten hin – ein Erbe der Sowjetzeit. Vor allem evangelikale Redner wollen damit aufräumen, Kampagnen für den Schutz des ungeborenen Lebens aus dem Westen in den Kaukasus importieren.
Es bleibt nicht bei diesem einen Import, manchmal klingt es von der Bühne so, als müsse Armenien vom Westen lernen, um seine Probleme zu lösen: Freiheit, Demokratie, Kapitalismus. Die Brücke ist dabei immer wieder das Christentum, irgendwie sei man doch gleich in Washington, London, Paris, Berlin und Jerewan. Zweifel sind berechtigt: Wer einmal am Portal der leuchtend orangenen Sankt-Sarkis-Kathedrale stand oder die außerweltliche Schrift der Armenier im Sprachmuseum Matenadaran zu entziffern versucht hat, versteht warum.
Obgleich die Armenier dringenden Beistand in schweren Zeiten benötigen, wird Hilfe aus dem Ausland nur ohne Parteinahme im laufenden Streit zwischen Kirche und Staat fruchten. Mit der Prayer-Breakfast-Konferenz scheint diese nun in greifbarer Nähe. Die Gäste aus den USA scheinen bei allem Business von einem hohen Idealismus angetrieben.






