PARIS. Der Islamismus hat unter jungen Migranten in Frankreich stark an Attraktivität gewonnen. Muslime im Alter von 15 bis 24 Jahren orientieren sich demnach deutlich stärker an strengen religiösen Normen als ihre älteren Glaubensgenossen, ergab eine Langzeitstudie des französischen Meinungsforschungsinstituts Ifop, über die die französische Tageszeitung Le Figaro berichtet. Ähnliche Zahlen existieren auch für Deutschland (JF berichtete).
Der Leiter der Studie, François Kraus, sprach von einem langfristigen Trend zur „Re-Islamisierung“ und einer „klaren Verstärkung religiöser Identitätsmuster“ unter jüngeren Muslimen. Die Ergebnisse zeigten eine „weitreichende Rückbesinnung auf strikte religiöse Normen“ sowie eine wachsende Zustimmung zu politischen Vorstellungen islamistischer Bewegungen, erklärte Kraus.
Das zeigen unter anderem folgende Zahlen: Innerhalb von 36 Jahren stieg die Zahl der Moscheebesucher unter 25 Jahren von sieben Prozent auf 40 Prozent. Die strikte Einhaltung des Ramadan sprang von 51 Prozent auf 83 Prozent. Das Tragen des Kopftuchs stieg bei den Mädchen dieser Generation von 16 Prozent auf 45 Prozent – also um das Dreifache gegenüber dem Jahr 2003.
Knapp 42 Prozent sympathisieren mit Islamisten
Parallel zur intensiveren religiösen Praxis zeigt die Studie auch eine starke Zunahme des täglichen Gebets. 67 Prozent der Muslime unter 25 Jahren gaben an, mindestens einmal täglich zu beten – mehr als doppelt so viele wie 1989 (26 Prozent). Insgesamt bezeichnen sich heute 80 Prozent der Muslime in Frankreich als religiös; in anderen Religionsgruppen liegt der Durchschnitt nach Ifop-Angaben bei 48 Prozent.
Ein weiterer zentraler Befund betrifft die Geschlechterrollen und das Verhältnis der Geschlechter im Alltag. 45 Prozent der Männer unter 35 Jahren und 57 Prozent der Frauen derselben Altersgruppe lehnen mindestens eine Form direkter Interaktion mit dem anderen Geschlecht ab. Dazu gehören etwa Händeschütteln, medizinische Behandlung durch eine Person des anderen Geschlechts oder der Besuch gemischter Schwimmbäder. Unter den unter 25-Jährigen würde knapp die Hälfte (47 Prozent) es vermeiden, eine Person des anderen Geschlechts zu küssen – selbst im freundschaftlichen Kontext.
Ebenfalls auffällig sei laut den Studienerstellern die Zunahme an Sympathien für verschiedene islamistische Bewegungen. Insgesamt 42 Prozent der unter 25-jährigen Muslime sympathisieren demnach ganz oder teilweise mit derartigen Strömungen. Im Gesamtdurchschnitt aller Muslime liegt dieser Wert bei 33 Prozent. 1998 waren es in allen Altersgruppen zusammen 19 Prozent gewesen.
Besonders die Muslimbruderschaft ist beliebt
Unter den verschiedenen abgefragten Strömungen erhielt die Muslimbruderschaft den größten Zuspruch. Ein Drittel der unter 25jährigen äußerte positive Ansichten über diese Bewegung. Insgesamt wird ihnen von einem Viertel aller befragten Muslime Sympathie entgegengebracht. Die Muslimbruderschaft, die in Frankreich über Jahrzehnte durch die Organisation UOIF (heute Musulmans de France) repräsentiert wurde, gilt als eine Strömung, die orthodoxe religiöse Normen vertritt und zugleich auf soziale Integration setzt, ohne in religiösen Fragen Zugeständnisse zu machen.
Andere Strömungen wie Salafismus, Wahhabismus, Tabligh oder Takfir erreichen Werte zwischen acht und neun Prozent Zustimmung. Immerhin: Im Bezug auf den gewaltbereiten Dschihadismus äußerten 52 Prozent der Muslime deutliche Ablehnung; lediglich drei Prozent bekannten sich gegenüber den Fragestellern zu dieser Strömung. 24 Prozent waren indifferent, 13 Prozent gaben an, die Bewegung nicht zu kennen.
57 Prozent der 15- bis 24-Jährigen gaben an, daß die Regeln des Islam für sie wichtiger seien als staatliches Recht. Unter allen befragten Muslimen liegt dieser Wert bei 49 Prozent; 1995 waren es noch 62 Prozent, die dem staatlichen Recht den Vorrang gaben.
Ältere Muslime sind weniger streng
Besonders ausgeprägt ist der Unterschied im Bereich der Wissenschaft. Während 65 Prozent aller Muslime die religiöse Erklärung der Weltschöpfung über wissenschaftliche Erkenntnisse stellen, sind es unter den unter 25-Jährigen 82 Prozent. Der entsprechende Wert in der Gesamtbevölkerung beträgt 19 Prozent.
Lediglich zwölf Prozent der jungen Muslime stimmten der Aussage zu, der Islam solle sich „modernisieren“. Im Jahr 1998 bejahten dies noch 41 der muslimischen Jugendlichen.
Die Studie zeigt zugleich, daß die Religiosität unter älteren Muslimen weniger verbreitet ist. Das Tragen des Kopftuchs ist bei Frauen über 50 Jahren rückläufig: Nur 16 Prozent geben an, derzeit einen Schleier zu tragen; 2003 lag der Anteil bei 19 Prozent. Auch der Moscheebesuch nimmt in höheren Altersgruppen ab – bei den über 50-jährigen Männern liegt er bei 24 Prozent, deutlich unter den 40 Prozent der Jüngeren.
Trend könnte zunehmen
Die Forscher sehen mehrere Hinweise darauf, daß die Jahre 2016 bis 2019 einen Wendepunkt in der Entwicklung darstellen. In dieser Zeit stiegen mehrere Anzeichen strenger Religiosität an, nachdem sie zuvor über Jahre hinweg stabil geblieben waren. Das betrifft etwa persönliche Gebete, Fastenpraxis oder das Tragen religiöser Kleidung. Die Entwicklung fällt zeitlich mit der Hochphase des sogenannten Islamischen Staates zusammen, der in Frankreich zu intensiven gesellschaftlichen Debatten und vermehrtem medialen Fokus führte.
Laut der aktuellen Erhebung bezeichnen sich sieben Prozent der Bevölkerung in Frankreich als Muslime. 43 Prozent geben an, katholisch zu sein, 37,5 Prozent identifizieren sich als konfessionslos, und kleinere Anteile gehören protestantischen, jüdischen, orthodoxen oder buddhistischen Religionsgemeinschaften an. 1985 machten Muslime weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus, während 83 Prozent der Menschen sich als katholisch bezeichneten.
Es gebe keine Anzeichen dafür, daß der Trend hin zum Islamismus abnehmen werde, erklärte Kraus. Die Daten ließen vielmehr erwarten, daß sich die Entwicklung bei fortschreitendem Generationswechsel weiter verstärken könnte. Die Studie basiert auf einer Befragung von 1.005 Musliminnen und Muslimen, die zwischen dem 8. August und dem 2. September unter insgesamt 14.244 Personen ab 15 Jahren im französischen Mutterland erhoben wurde. (lb)






