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Prozeß um gewaltsamen Tod von George Floyd: Das Warten auf die Urteilsverkündung

Prozeß um gewaltsamen Tod von George Floyd: Das Warten auf die Urteilsverkündung

Prozeß um gewaltsamen Tod von George Floyd: Das Warten auf die Urteilsverkündung

Goerge Floyd Eric Nerlson Derek Chauvin Gericht Verhandlung
Goerge Floyd Eric Nerlson Derek Chauvin Gericht Verhandlung
Verteidiger Eric Nelson (l.) und sein Mandant Derek Chauvin (r.) am Dienstag vor Gericht Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Prozeß um gewaltsamen Tod von George Floyd
 

Das Warten auf die Urteilsverkündung

Einen öffentlichkeitswirksameren Prozeß als diesen hat es in den vergangenen Jahren nicht gegeben. Der vom Dienst suspendierte Polizist Derek Chauvin steht seit dem 29. März in Minneapolis wegen Mordes und Totschlags vor Gericht. Dabei geht es um weit mehr als nur den gewaltsamen Tod von George Floyd. Was hat der Prozeß bislang zutage gefördert?
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Cato, Palmer, Exklusiv

Einen öffentlichkeitswirksameren Prozeß als diesen hat es in den vergangenen Jahren wohl kaum gegeben. Derek Chauvin, 45jähriger Ex-Polizist, steht seit dem 29. März in Minnesota wegen Mordes vor Gericht. Sein Plädoyer: Nicht schuldig. Der mittlerweile vom Dienst suspendierte Beamte hatte bei der Festnahme des Afroamerikaners George Floyd im Mai vergangenen Jahres minutenlang auf dem Nacken des 46jährigen gekniet, obwohl dieser mehrfach beklagte, keine Luft zu bekommen. Jede Hilfe für Floyd kam zu spät.

Nach seinem Tod brachen im Sommer 2020 im ganzen Land Unruhen aus, bei denen „Black Lives Matter“-Demonstranten Hunderte von Geschäften plünderten, landesweit Schäden in Höhe von rund zwei Milliarden Dollar verursachten und dazu Dutzende von historischen Statuen und Denkmälern zerstörten. Mehrere Personen kamen während der Proteste ums Leben. Droht sich das Ganze bei einem möglichen Freispruch Derek Chauvins zu wiederholen?

Die Anspannung in Amerika ist vor dem Urteil jedenfalls dramatisch. Nicht nur Schuld oder Unschuld stehen zur Diskussion, über allem schwebt zusätzlich die Frage: Sind die USA tatsächlich ein Land, in dem ein „systematischer Rassismus“ vorherrscht? Floyds Familienanwalt Benjamin Crump bekräftigte bereits vor dem ersten Prozeßtag, daß der Fall ein Referendum darüber sei, „wie weit Amerika in seinem Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit für alle gekommen ist“. Der prominente Bürgerrechter Al Sharpton ging noch einen Schritt weiter: „Derek Chauvin ist im Gerichtssaal, aber Amerika steht vor Gericht.“

Wie lautet die Anklage?

Angeklagt ist Chauvin in drei verschiedenen Punkten: Mord zweiten Grades („second-degree murder“), was mit bis zu 40 Jahren Haft bestraft werden kann, Totschlag zweiten Grades („second-degree manslaughter“), wofür man bis zu zehn Jahre ins Gefängnis wandern kann, und Mord dritten Grades („third-degree murder“). Zweiten Grades meint in der US-Rechtssprache eine bewußte und vorsätzliche Tat, mit dem dritten Grad verneint man die Absicht, einen Tod herbeizuführen. Gerade der letzte Anklagepunkt, der in Minnesota mit bis zu 25 Jahren Haft bestraft werden kann, wird von vielen Rechtsexperten als eine Art „sichere Bank“ gewertet, zumindest eine Art von Verurteilung zu erreichen, für den Fall, daß Chauvin von den schwerer wiegenden Anklagen wie Mord zweiten Grades freigesprochen wird. Knapp 400 Zeugen stehen auf der Liste. Unklar ist, ob tatsächlich alle vorsprechen müssen.

Staatsanwalt Jerry Blackwell war in seinem Eingangsstatement fest davon überzeugt, daß Chauvin „exzessive“ und „unverhältnismäßige“ Gewalt eingesetzt habe und damit seine Pflichten als Polizist verletzte. Das sah auch die Gerichtsmedizin so, die den Tod als Mord eingestuft hat. Um aber eine Verurteilung in einer der drei Anklagepunkte zu erreichen, muß die Staatsanwaltschaft eindeutig beweisen, daß Chauvins Handlungen eine „wesentliche Ursache“ für Floyds Tod waren.

Die Verteidigung rund um den trickreichen Anwalt Eric Nelson hofft, diese kausale Verbindung zu untergraben. Sie sieht Chauvins Einsatz als gerechtfertigt an, weil dieser bei der Festnahme Widerstand geleistet habe. Floyds Tod gehe nicht auf Gewalteinwirkung zurück, sondern vor allem auf dessen vorbelastete Gesundheit (unter anderem war Floyd am 3. April positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden) und Drogen in seinem Blut, die zu seinem Herzstillstand geführt hätten.

Tatsächlich befanden sich in Floyds Blutkreislauf laut toxologischem Gutachten mehrere gefährliche Substanzen: elf Nanogramm pro Milliliter Blut (ng/ml) Fentanyl, ein Betäubungsmittel, das schon in geringen Konzentrationen schwere Auswirkungen auf den Körper hat und je nach Schätzung 70 bis 120mal so potent wie Morphium ist, 5,6 ng/ml Norfentanyl, 19 ng/ml Methamphetamin („Chrystal Meth“), 86 ng/ml Morphium und insgesamt 46,1 ng/ml THC, dem psychoaktiven Bestandteil von Marihuana. Nelson wies in seiner Argumentation ebenfalls auf die große Menge wütender Schaulustiger zum Zeitpunkt von Floyds Tod hin, die für die Polizisten eine Bedrohung dargestellt und Chauvin davon ablenkt hätten, seinem Gefangenen zu helfen.

Wer sitzt in der Jury?

Zwölf Geschworene und zwei Ersatzgeschworene, die während des im Fernsehen übertragenen Prozesses anonym und unsichtbar bleiben, werden entscheiden, ob Derek Chauvin ins Gefängnis muß oder freigesprochen wird. Bereits die Auswahl sorgte für lange Verhandlungen der beiden Anwaltsteams. Nach elf Tagen der Vorladungen einigte man sich aus einer ursprünglich 130 Personen umfassenden Liste schließlich auf 14 Bürger aus Minnesota. Die Zusammensetzung sieht wiefolgt aus: sechs weiße Frauen, drei schwarze Männer, zwei gemischtrassige Frauen, zwei weiße Männer und eine schwarze Frau. Alle Personen stammen aus Hennepin County, das laut Volkszählungsdaten demographisch zu 74 Prozent weiß und zu 14 Prozent schwarz ist.

Was haben die ersten Befragungen ergeben?

Ein wichtiger Schwerpunkt lag erwartungsgemäß in der Festnahmemethode Chauvins. Dazu lud die Staatsanwaltschaft diverse Polizisten und Sachverständige vor. Viele Prozeßbeobachter hegten die Befürchtung, daß eine Art „Omerta“ unter den Beamten greifen würde. Gegen einen Kollegen (bzw. Ex-Kollegen) auszusagen, gilt in Polizeikreisen häufig als verpönt. In den USA spricht man von der „blue wall of silence“. Doch die Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Die Beamten distanzierten sich ziemlich offen von den Handlungen Chauvins.

Knapp ein Dutzend Polizisten hat die Staatsanwaltschaft bereits aufgeboten, von denen die meisten eine ähnliche Aussage trafen: Die von Chauvin angewandte Gewalt während des Einsatzes war unverhältnismäßig. „Das entspricht nicht dem, was wir trainieren“, sagte etwa Katie Blackwell, die in Minneapolis lange Zeit für die Polizeiausbildung zuständig war und die Chauvin nach eigener Aussage seit knapp 20 Jahren kennt. „Laut Vorschrift ist eine Nackenfesselung („neck restraint“) das Zusammendrücken einer oder beider Seiten des Halses unter Verwendung eines Arms oder eines Beins. Was wir trainieren, ist, einen Arm oder zwei Arme zu benutzen, um eine Nackenfessel zu machen“, erklärte Blackwell. Angesprochen auf Chauvins Variante dieser Nackenfessel antwortete sie: „Ich weiß nicht, was für eine improvisierte Position das ist. Das ist also nicht das, was wir trainieren.“

Am Dienstag jedoch bot die Verteidigung einen Zeugen auf, der das direkte Gegenteil behauptete: Barry Brodd, ein ehemaliger Polizeibeamter, der 35 Jahre lang Beamte speziell für Festnahmen und Einsätze ausgebildet hat, erklärte, daß Chauvins Gewaltanwendung gegen George Floyd „gerechtfertigt“ war und „aktuellen Standards“ entsprochen hätte. Zudem hätten laut Brodd umstehende Zeugen, die laut geschrien hätten, die Polizeiarbeit erschwert. Das ist genau der Punkt, den auch Anwalt Nelson während der Befragungen immer wieder hervorhebt.

Die Verteidigung hatte zudem bei der Aussage von Minneapolis’ Polizeichef Arradondo mit der Feststellung gepunktet, Chauvin hätte nicht durchgehend auf dem Nacken Floyds gekniet. Arradondo gab nach Sichtung eines Body-Cam Videos zu, daß Derek Chauvins Knie tatsächlich zeitweise auf Floyds Schulterblatt gelegen hätte.

Spielte der Drogenkonsum von Floyd eine Rolle?

Der Drogenkonsum Floyds spielt in der Verteidung eine zentrale Rolle, nicht zuletzt durch das toxologische Gutachten. Courteney Ross, frühere Lebensgefährtin von Floyd, hatte im Prozeß ausgesagt, daß Floyd aufgrund von chronischen Rückenschmerzen von Fentanyl-Schmerzmitteln abhängig geworden sei. Zudem kam heraus, daß Floyd zuletzt im Jahr 2019 in einer ähnlichen Situation wie am 25. Mai 2020 verhaftet wurde und den Beamten erzählte, er habe mehrere Tabletten geschluckt.

Am Dienstag wurde das Video gezeigt, wie der damalige Polizist Scott Creighton sich der Beifahrerseite nähert und Floyd wiederholt auffordert, auszusteigen. Die Bilder gleichen den Ereignissen ein Jahr später. „Erschießen Sie mich nicht, Mann“, hört man Floyd sagen. „Ich will nicht erschossen werden.“ Creighton schreit ihn an: „Halten Sie die Hände so, daß ich sie sehen kann. Okay? Legen Sie sie auf das Armaturenbrett. Ich werde Sie nicht erschießen. Legen Sie die Hände auf das Armaturenbrett. Das ist das letzte Mal, daß ich Ihnen das sage. Es ist ganz einfach.“

Im jetzigen Fall wurden ebenfalls Bruchstücke von Pillen mit Methamphetamin, Fentanyl und Floyds DNA im Auto gefunden. Das Brisante: Die Spuren der Pillen fand man erst bei einer zweiten Durchsuchung des Wagens, die extra von Chauvins Anwaltsteam beantragt werden mußte. Doch nicht immer geht die Taktik der Verteidigung auf: Der leitende Ermittler des Staates Minnesota in diesem Fall, James Reyerson, stimmte am vergangenen Mittwoch zunächst mit der Verteidigung überein, daß Floyd in einem Polizeikameravideo von seiner Verhaftung zu sagen schien: „Ich habe zu viele Drogen gegessen.“ („I ate too many drugs.“) Später revidierte er nach Sichtung eines längeren Ausschnitts seine Aussage und meinte nun den Satz „Ich nehme keine Drogen“ („I ain’t do no drugs.“) zu vernehmen.

Was sagen die medizinischen Sachverständigen?

Der medizinische Sachverständige des Hennepin County, Dr. Andrew Baker, bestätigte während seiner Befragung den Drogencocktail in Floyds Blut. Elf Nanogramm pro Milliliter Blut (ng/ml) Fentanyl habe er nicht mal bei manchen Personen mit Überdosis gesehen, gab er zu. Dennoch sprach er ganz eindeutig von einem Tod durch Gewalteinwirkung, genauer: „Herz-Lungen-Stillstand als Komplikation der Strafverfolgung, Fesselung und Halskompression“. Dieser Aussage folgten auch der Lungenarzt Dr. Martin Tobin, die forensische Pathologin Dr. Lindsey Thomas und Dr. Bill Smock, Chirurg für das Louisville Metro Police Department.

Daß er auch am Tag des Vorfalls Drogen konsumiert hatte, dieser Eindruck verhärtet sich zumindest in den nun veröffentlichten Videoaufnahmen aus dem Laden, in dem Floyd mit der offenbar gefälschten 20 Dollar Note bezahlen wollte. Er tanzt dort bizarr im Geschäft umher, ist zappelig und nervös. Der 19jährige Ladenangestellte Christopher Martin erkannte, daß der 46jährige Schwierigkeiten beim Sprechen hatte. „Es schien mir so, daß er high war“, sagte Martin vor Gericht. Das Filmmaterial, das keinen Ton hat, zeigte den Moment, in dem Floyd die gefälschte 20-Dollar-Note übergibt, nachdem er ein paar Worte mit dem Angestellten gewechselt hat. Martin bestätigte bei seiner Aussage, er habe sofort eine Fälschung vermutet.

Wer saß noch im Wagen bei Floyds Festnahme?

Mittlerweile ist auch der Mann, der bei Floyds Festnahme auf dem Beifahrersitz saß, identifiziert. Es ist Morries Hall, der Floyds Drogendealer gewesen sein soll, und der zur Klärung ob, wie oft und wann Floyd Drogen genommen hat, viel beitragen könnte. Am Montag mußte sich der 42jährige wegen eines anderen Falls in Redwood County vor Gericht verantworten. Die Anklage: Menschen- und Drogenhandel. Hall, der sich im Gegensatz zu Floyd am 25. Mai 2020 kooperativ gezeigt hatte, hatte jedoch bereits erklärt, daß er sich in Chauvins Fall auf sein verfassungsmäßiges Recht gegen Selbstbeschuldigung beruft, wenn er in den Zeugenstand tritt. Denn sollte tatsächlich eine Überdosis als Grund für Floyds Tod festgehalten werden, könnte dies im Falle eines Drogenkaufs bei Hall strafrechtliche Konsequenzen für ihn haben. Die amerikanische Verfassung erlaubt Zeugen dann, die Aussage zu verweigern.

Wie geht es nun aus?

Eine wirkliche Richtungsentscheidung ist noch nicht abzusehen. In der ersten Woche präsentierte die Staatsanwaltschaft ihre Zeugen und Sachverständigen, in der zweiten Woche liegt der Ball nun beim Team um Eric Nelson. Bezirksrichter Peter Cahill, der den Prozeß gegen Chauvin leitet, erwartet, daß beide Seiten am Montag ihre abschließenden Argumente vortragen werden, bevor der Fall zur Beratung an die Jury übergeben wird.

Nicht nur Entspannung der Lage dürfte unterdessen der Tod von Daunte Wright beigetragen haben. Der 20jährige Schwarze war am Sonntag bei einer Verkehrskontrolle in einem Vorort von Minneapolis von einer 48jährigen weißen Polizistin, die ihren Taser mit der Dienstwaffe verwechselte, erschossen worden. Wright fuhr mit einer abgelaufenen Registrierung, weshalb er überhaupt angehalten worden war, anschließend fiel den Beamten ein ausstehender Haftbefehl auf. Wright widersetzte sich der Festnahme, dann folgten die tödlichen Schüsse der Polizistin.

Seit Tagen nehmen „Black Lives Matter“-Demonstranten und die Antifa den Vorfall zum Anlaß, Ausschreitungen zu provozieren, Geschäfte zu plündern und die Polizei zu attackieren. In der Nacht auf Mittwoch wurden über 60 Personen festgenommen. Ein böses Vorzeichen für die Urteilsverkündung?

Verteidiger Eric Nelson (l.) und sein Mandant Derek Chauvin (r.) am Dienstag vor Gericht Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
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