Man ist in Berlin noch einmal davongekommen. Überall in Europa wählten die Bürger verstärkt konservative oder europakritische Parteien. Nur an Deutschland zog der Trend vorüber. Die Zahl der Wähler bei der Europawahl vom vergangenen Sonntag blieb mit 43,3 Prozent auf sehr niedrigem Niveau konstant, ein großer Zuwachs radikaler Kräfte läßt sich nicht feststellen.
Im Gegenteil: Die Union, die es in den vergangenen Monaten durch Ausfälle gegen Vertriebene und Katholiken sowie Seehofer-Pirouetten geradezu darauf anlegte, Wähler zu vergraulen, ging mit den von CDU-Chefin Angela Merkel bereits vor der Schließung der Wahllokale prognostizierten Verlusten aus dem Rennen und landete bei 37,9 Prozent. Das Ergebnis wird angesichts des historischen Hochs vor fünf Jahren mit 44,5 Prozent, als sich Rot-Grün im Abwärtsstrudel befand, als erträglich bezeichnet.
„Alles in allem: eine gute Ausgangsbasis für die nächsten 110 Tage“, bilanzierte die CDU-Chefin am Tag nach der Wahl in Berlin. Konsequenzen will die Union aus dem Ergebnis nicht ziehen. Schon am Wahlabend ließen CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla und FDP-Chef Guido Westerwelle vor allen Kameras erkennen, daß sie das Europawahlergebnis als gute Ausgangsbasis für die Bundestagswahl am 27. September sehen.
Pofalla freute sich, daß die Union alleine schon 17 Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten liegt und mit der FDP ein starker Bündnispartner bereitsteht, Merkel den Weg zur zweiten Kanzlerschaft freizumachen. Was Pofalla nicht sagte: Sollte es mit der FDP nicht reichen, steht ja immer noch die SPD als geschrumpfter Koalitionspartner zur Verfügung. Vermutlich waren es die bei der Union abgewanderten bürgerlichen Protestwähler, die den Liberalen beinahe eine Verdoppelung ihres Ergebnisses verschafften. Auf jeden Fall sind Merkels Chancen auf eine zweite Amtszeit deutlich gestiegen. Bei den Grünen, deren 12,1 Prozent für eine gute Mobilisierungsfähigkeit der Wähler sprechen, sorgt sich Fraktionssprecher Jürgen Trittin natürlich um die Rückkehr zur Macht nach der Bundestagswahl. Das eigene Ergebnis ist in Ordnung, aber Trittin blickt sorgenvoll auf die SPD.
Man braucht nicht einmal einen Taschenrechner, um festzustellen, daß die 12,1 Prozent der Grünen und die 20,8 Prozent der Sozialdemokraten selbst bei Hinzurechnung der 7,5 Punkte für die angesichts der weltweiten Wirtschaftskrise erstaunlich schwach gebliebene Linkspartei zur Regierungsbildung nicht reichen werden, wenn Deutschland am 27. September so wählt wie bei der Europawahl. Aber tut es das auch? Der einzige Verlierer in den Berliner Parteizentralen, SPD-Chef Franz Müntefering, sieht noch Chancen: „Das Spiel ist auch noch nicht zu Ende.“ Für Müntefering steht fest, daß es der SPD nicht gelang, die eigene Stammkundschaft an die Wahlurnen zu bringen. Die bei der Bundestagswahl aller Wahrscheinlichkeit nach höhere Wahlbeteiligung werde auch mehr SPD-Wähler an die Urnen bringen, „und dafür werden wir weiter kämpfen“.
Der mediale Abgesang auf die Sozialdemokraten war schon erstaunlich: „SPD in Insolvenz“, titelte die tageszeitung. Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier stehe „am Abgrund“ seiner Kandidatur, meinte Spiegel-Online und merkte an, der Außenminister habe am Wahlabend in der Sendung „Anne Will“ durch Mimik und Körpersprache „stille Resignation“ erkennen lassen. Wenn das stimmt, ist die Bundestagswahl für die Sozialdemokraten verloren, denn wer nicht mehr kämpft, so weiß der Volksmund, hat schon verloren. „Eine schwarz-gelbe Koalition nach der Bundestagswahl konturiert sich“, stellte die Süddeutsche Zeitung fest. „Adieu, Volkspartei SPD“, rief Hans Peter Schütz auf stern.de in einem Kommentar zur Europawahl und erinnerte an die prognostische Blamage von Müntefering: Der hatte vor der Wahl geraten, die Vasen unter dem Fernseher wegzustellen, weil die Verlustbalken der Union sie zerschmettern würden. Aber jetzt lägen dort die SPD-Scherben.
In der Tat war allgemein davon ausgegangen worden, daß die SPD von ihrem historischen Tiefpunkt von 21,5 Prozent vor fünf Jahren wieder wegkommen würde. Doch die Genossen fielen mit 20,8 Prozent noch tiefer in den Keller. Ist also das deutsche Ergebnis eine Absage an das Prinzip Staat, der nach dem Versagen marktwirtschaftlicher Kräfte den Weg aus der Krise finden und gehen soll? Dafür spricht, daß die SPD sehr schlecht abgeschnitten und die Linke wenig gewonnen hat. Andererseits darf das Ergebnis nicht überbewertet werden, da die Wahlbeteiligung deutlich unter der Beteiligung an Bundestagswahlen liegt und eine Vergleichbarkeit nur eingeschränkt gegeben ist. Aber für die SPD ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, innerhalb eines guten Vierteljahres die Stimmung noch zu ihren Gunsten zu drehen. Die Regentschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel könnte sich damit zur Ära ausweiten.
Im Süden der Republik ist die Welt wieder in Ordnung. Die CSU landete bayernweit bei 48,1 Prozent, was einem deutschlandweites Ergebnis von 7,2 Prozent entspricht und den Schock nach dem Verlust der Alleinregierung im Freistaat etwas mildert. Der Erfolg geht auf den Generalsekretär Alexander Dobrindt zurück, der einen betont regionalen Wahlkampf führte: „Nur wer CSU wählt, gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa“, hieß das Motto der CSU. Daß damit der Verlust des bundespolitischen Anspruchs einhergeht, den die CSU einst vertrat, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Wahlergebnis der Europawahl 2009
Partei: Ergebnis 2009; 2004
CDU: 30,7 %; 36,5 %
SPD: 20,8 %; 21,5 %
GRÜNE: 12,1 %; 11,9 %
FDP: 11,0 %; 6,1 %
DIE LINKE: 7,5 &; 6,1 %
CSU: 7,2 %; 8,0 %
FREIE WÄHLER: 1,7 %; –
REPUBLIKANER: 1,3 %; 1,9 %
Die Tierschutzpartei: 1,1 %; 1,3 %
FAMILIE: 1,0 %; 1,0 %
Piraten; 0,9 %; –
Rentner: 0,8 %; –
ödp (Ökologisch-Demokratische Partei): 0,5 %; 0,6 %
DVU: 0,4 %; –
Volksabstimmung: 0,3 %; 0,5 %
PBC (Partei bibeltreuer Christen): 0,3 %; 0,4 %
CHRISTLICHE MITTE: 0,2 %; 0,2 %
Bayernpartei: 0,2 %; 0,1 %
AUF (Partei für Arbeit, Umwelt und Familie, Christen für Deutschland): 0,1 %; –
Wahlberechtigte 2009: 62.202.967
Wähler 2009: 26.924.813
Wahlberechtigte 2004: 61.682.394
Wähler 2004: 26.523.104
Foto: Stimmauszählung in Dresden: SPD klagt über mangelnde Mobilisierung der Wähler