Nach dem Rücktritt von Pervez Musharraf, der seit dem Militärputsch von 1999 der starke Mann in Pakistan war, erwarten die Strategieinstitute, daß die Entwicklung in diesem islamischen Problemstaat noch unübersichtlicher werden wird. Mit dem Austritt von Nawaz Sharif aus der Regierungskoalition, die den erfahrenen und skrupellos machtbewußten Militärdiktator beerbt hat, wird alles noch schwieriger werden. Vor allem in den USA, für deren Globalinteressen Pakistan ein kaum verzichtbarer Verbündeter ist, beobachtet man dies mit Sorge. Bill Clinton sah schon im Jahr 2000 Pakistan als „das Zentrum der gefährlichsten Region der Welt“. Und die Probleme sind seither nicht geringer geworden, Terroranschläge beherrschen die Schlagzeilen, die Wirtschafts- und Finanzkrise verschärft sich. Hauptgrund der Ängste ist aber neben der politisch-sozialen Instabilität des 170-Millionen-Einwohner-Vielvölkerstaates sein Atomwaffenarsenal, das auf 50 bis 200 Sprengköpfe geschätzt wird. Die Islamische Republik gilt zudem als undurchsichtiger Zwischenhändler von Nuklearwaffentechnik; unter anderem führen die Spuren der Atomprogramme von Nordkorea und Iran nach Pakistan. Der Großteil des Nachschubs für die US- und Nato-Truppen in Afghanistan wird über Pakistan angeliefert. Doch nicht nur aus strategischen Gründen und wegen der Taliban oder der Paschtunen, die im Norden Pakistans an der Grenze zu Afghanistan leben, wird Washington weiterhin versuchen, massiv auf die Politik des Landes Einfluß zu nehmen – hinzu kommt die langfristige Überlegung, Öl und Gas aus Zentralasien über Afghanistan und Pakistan so nach Indien zu bringen, daß man diese Verbindung weiter kontrollieren kann. Auch die direkten Beziehungen zu Indien werden von der Zukunft Pakistans tangiert. Ein halbwegs stabiles Afghanistan wird es nur geben können, wenn auch der Nachbar Pakistan politisch befriedet ist. Davon ist das Land aber nach Musharraf weiter entfernt als zuvor. Denn unter den derzeitigen Politikern steht niemand für Kontinuität und Berechenbarkeit. Zwar hatte der Start der zivilen Regierung Hoffnungen geweckt. Bei den lange hinausgezögerten Wahlen, die im Februar endlich stattfinden konnten, hatten die beiden größten Parteien des Landes, die Volkspartei (PPP) und die Muslimliga (PML-N) eine solide Mehrheit bekommen. Die Macht der Zivilregierung steht auf wackligen Füßen Aber statt auf dieser Basis nach zukunftsfähigen Kompromissen zu suchen, ist die Koalition nun geplatzt. Sie wurde von zwei alten Rivalen geführt, die sich vor den Wahlen nur zusammenraufen konnten, weil sie in Musharraf einen gemeinsamen Feind hatten: Sharif, ein vor neun Jahren von Musharraf gestürzter Ex-Premier, dem eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber islamistischen Tendenzen nachgesagt wird, und Ali Asif Zardari, dessen einzige politische Qualifikation darin besteht, daß er der Witwer der ermordeten früheren Regierungschefin Benazir Bhutto ist. Wegen zahlreicher Korruptionsvorwürfe gilt er als eine der zwielichtigsten Persönlichkeiten der pakistanischen Politik. Er will sich dennoch am 6. September zum neuen Präsidenten des Landes wählen lassen. Sharif will den 70jährigen früheren Höchstrichter Saeeduzzaman Siddiqui nominieren. Pakistan fehlt aber eine Persönlichkeit, die einen Neuanfang verkörpern und die zentrifugalen politischen Kräfte des tief gespaltenen Landes versöhnen könnte. Der 1947 aus den muslimischen Teilen Britisch-Indiens gebildete Kunststaat verlor 1971 mit Bangladesch seinen Ostteil, nun driftet das verbliebene West-Pakistan auseinander. Spannungen bestehen nicht nur zwischen Islamisten und Demokraten. Auch die Nationalitäten und Stämme gehen eigene Wege. Die Paschtunen im Norden blicken nach Afghanistan. Die Belutschen im Westen wollen Unabhängigkeit. Der Punjab, die bevölkerungsreichste Provinz, die gut die Hälfte der Einwohner stellt, möchte tendenziell sogar mit Indien wiedervereinigt werden. Ein Gutteil der Einwohner Karatschis, der früheren Hauptstadt, stammt aus Bombay und ist mit Islamabad unzufrieden. Das Land ist in so hohem Maße instabil, daß es ohne charismatische politische Führernaturen auf demokratische Weise kaum noch zu befrieden sein wird. Doch das politische Personal Pakistans lebt fast ausschließlich aus der Rückkehr entmachteter Politiker von einst: Zardari war Minister im Kabinett seiner Frau, er wurde von Sharif ins Gefängnis gesteckt, dem Mann, der später ins Exil ging und mit dem er zuletzt eine brüchige Koalition bilden mußte. Wie hinfällig die Macht dieser Zivilisten in Pakistan ist, zeigte sich Ende Juli: Der Militärgeheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI), dem man die Unterstützung der paschtunischen Taliban nachsagt, sei fortan dem Innenministerium und nicht der Armeeführung unterstellt, hatte die neue Regierung verfügt. Es dauerte nur sechs Stunden, bis die Armee klargestellt hatte, wer das Sagen hat, und bis ein Sprecher der regierenden Volkspartei bekanntgab, alles bleibe, wie es war, der ISI unterstehe dem Militär. Wahrscheinlich wäre es ohnehin ein Glücksfall für das Land, wenn das Militär im Hintergrund die Fäden in der Hand behielte, so wie es in der 61jährigen Geschichte Pakistans die meiste Zeit der Fall war.