Bei der Durchsicht der Leitartikel der letzten Tage wird Horst Köhler in der vergangenen Woche klargeworden sein: Er muß genau aufpassen, was er am Tag der Heimat sagt, wenn er das erste Mal vor den Vertriebenen in Berlin auftritt. Köhler ist Jahrgang 1943, geboren in Bessarabien und CDU-Mitglied – eigentlich stimmten alle Voraussetzungen, um Köhlers Festrede zu einem Heimspiel zu machen. Doch kamen dem „höchsten Vertreter unseres Staates“ (Einladungstext) zwei Dinge dazwischen: die Vertriebenen-Ausstellung und Hermann Schäfer. Der Streit um das geplante Zentrum gegen Vertreibung ging in den vergangenen Wochen in eine neue Runde. Seit Wochen attackieren die Polen heftig die Ausstellung „Erzwungene Wege“ im Berliner Kronprinzenpalais. Wegen der Ausstellung hatte Warschaus Bürgermeister sogar einen Besuch abgesagt. Die Ausstellung widmet sich dem Schicksal aller Vertriebenenopfer in Europa in den letzten 100 Jahren. Die polnischen Kritiker der Ausstellung fühlen sich aber getäuscht, wie sie sagen, weil polnische Exponate hier für „revanchistische BdV-Propaganda“ genutzt würden. Deswegen fordern immer mehr Leihgeber ihre Exemplare zurück – zum Beispiel die Glokke der „Wilhelm Gustloff“, die 1979 von polnischen Tauchern aus der Danziger Bucht geborgen worden ist. Zu Beginn der vergangenen Woche feuerte der polnische Parlamentspräsident Jurek Marek eine neue Salve nach Westen. Marek gehört der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ der herrschenden Kaczynski-Brüder an. In der FAZ hatte er festgestellt, es bestünden zwischen Deutschen und Polen unterschiedliche Auffassungen. „Dazu gehören vor allem der deutsche Begriff und die deutsche Doktrin der ‚Vertreibung‘.“ Schließlich sei die Vertreibung in Wirklichkeit eine „Umsiedlung“ gewesen, so Marek. Dafür erntete der Präsident des Sejm jedoch in Deutschland keinen Widerspruch, sondern die große Polizeieskorte. Marek kam nämlich am gleichen Tag nach Deutschland und wurde von hochrangigen Vertretern freundlich empfangen. Lektion für Horst Köhler: Den Vertreiberstaaten widerspricht man nicht. Noch unerfreulicher war der Auftritt von Hermann Schäfer, der das Kunstfest in Weimarer eröffnen sollte. Der Vertreter von Kulturminister Bernd Neumann (CDU) sprach – aus Sicht der anwesenden Gutmenschen – zuviel über deutsche und zuwenig über fremde Opfer während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Er mußte die Rede abbrechen (siehe auch Seite 8). Hinterher wurden trotz allerlei Entschuldigungen aus seinem Mund und dem seines Chefs Bernd Neumann Rücktrittsforderungen laut, zum Beispiel von Monika Griefahn (SPD). Lektion für Horst Köhler: Über Vertriebene reden – das wird nicht ausreichen. In letzter Minute hatte Köhler dann wohl noch Gelegenheit, die fünfzehn Grußworte der Ministerpräsidenten (Mecklenburg-Vorpommerns Koalition aus SPD und Linkspartei hatte keines ausgesprochen) zu studieren. Unter den Grußworten zeichneten sich jenseits von Skurrilitäten (der rheinland-pfälzische Landeschef Kurt Becken dankte für „Migrationserstberatung der Spätaussiedler“) zwei Extrempositionen ab. Da geht es um Nuancen. Die eine vertraten Klaus Wowereit und Angela Merkel. Der Regierende Bürgermeister von Berlin erklärte: „Es war Nazi-Deutschland, das einen barbarischen Krieg begann und durch Mord und Vertreibungen die Landkarte Mittel- und Osteuropas neu ordnen wollte. Hier liegt auch die Ursache des Schicksals der heimatvertriebenen Deutschen.“ Auch die Kanzlerin beschwor mit ihrem ersten Satz dem Geist dieser „Ihr seid selbst schuld“-These: „Das Kriegsende vor über 60 Jahren brachte für ganz Europa das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des von ihr verursachten Unrechts.“ Die andere Extremposition nahm der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) ein, der sich unnötige Bezugnahmen zum nationalsozialistischen Unrecht schenkte, sondern das Leid der Vertriebenen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte, indem er sagte: „Das Ausmaß der Vertreibung hatte kaum vorstellbare Dimensionen. Was vor 60 Jahren geschah, war einer der tiefsten Einschnitte in der deutschen Geschichte.“ Das ist der Rahmen, innerhalb dessen sich Horst Köhler für eine Position glaubte entscheiden zu müssen. Er wählte die Position von Wowereit und Merkel. Die deutschen Verbrechen seien der „Ausgangspunkt“ der Vertreibung, sagte das Staatsoberhaupt. Er sprach gleich zu Beginn seiner Rede von „Zwangsgermanisierung“ und „Vernichtungskrieg“. „Deutschland startete einen Krieg“, erzählte er. Alles andere folgte daraus. Er erinnerte dann an die Toten, die Vergewaltigten, die Vertriebenen. Und daran, daß die Neuankömmlinge in West- und Mitteldeutschland nicht sozialer Sprengstoff geworden sind, wie es zum Beispiel von der Zeitschrift Das Parlament 1952 prognostiziert worden war. „Sie waren vielmehr Motor des Wiederaufschwungs“, lobte er die Ostdeutschen. „Ohne sie wäre das Wirtschaftswunder kleiner ausgefallen.“ Und das, obwohl nur ein Drittel den gleichen Job ausübte wie vor der Vertreibung. Trotz der Erfolge bei der Integration der Heimatvertriebenen sei bei vielen ein Schatten auf der Seele zurückgeblieben. In einer Untersuchung aus dem Jahr 1999, berichtete Köhler, hatte sich herausgestellt, daß mehr als die Hälfte der untersuchten Frauen vergewaltigt worden war, viele sich deswegen noch heute in ärztlicher Behandlungen befanden und die meisten von ihnen bis zu diesem Zeitpunkt aus Scham geschwiegen hätten. Köhler erwähnte prominente Ostdeutsche und bekannte Gebäude – er nannte unter anderem die Philosophen Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder sowie den ehemaligen Sitz des Deutschen Ordens, die Marienburg – als Teil des „kulturellen Erbes“ der Deutschen. Dies gelte auch dann, wenn sie „unwiderruflich nicht mehr Teil Deutschlands sind“. Mit den Brüdern Kaczynski habe er gute Gespräche geführt, sagte der Bundespräsident. Und er unterstrich, daß es keine Entschädigungszahlungen geben solle. Köhler gab hier die Haltung der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung wieder: „Ich begrüße es, daß sich der Bund der Vertriebenen von der Preußischen Treuhand distanziert hat.“ Viele wünschten sich eine „menschliche Anerkennung“, sagte Köhler. Doch das „Pochen auf einem Rechtsanspruch“, auf Wiedergutmachungszahlung gar, versperre den Weg zu einer gemeinsamen Zukunft. Denn – noch einmal: „Es gibt keinen Zweifel daran, was die Ursache der Vertreibung war: das NS-Verbrechersystem und der von Deutschland entfesselte Krieg.“ Zuvor hatte BdV-Präsidentin Erika Steinbach (CDU) ihr Ansinnen bekräftigt, ein Vertreibungsdenkmal bauen zu wollen. In ihrer Rede gedachte sie der Opfer der Vertreibung und bezeichnete die (noch in Kraft befindlichen) Vertreibungsdekrete in der Tschechei als „Schanddokumente“. Köhler dagegen ging darauf nicht mit einer Silbe ein. Foto: Bundespräsident Horst Köhler, BdV-Präsidentin Erika Steinbach: „Kaum vorstellbare Dimensionen“