Als am 17. Juni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Beitrag des Historikers Stefan Scheil „Mitteleuropäische Gedankenspiele nach Versailles“ erschien, mochte man für einen Augenblick hoffen, daß das angesehene Blatt einen Pfeil für die vorurteilslose zeitgeschichtliche Forschung abschießen wollte. Doch die Angst vor der eigenen Courage folgte auf dem Fuß mit der Rezension des neuen Scheil-Buches „Die Eskalation des Zweiten Weltkrieges“ durch Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, der beflissen wieder auf die alte Linie der Historical Correctness und Volkspädagogik einschwenkte (JF 27/06). Damit wurde leider die Chance zu einem neuen Historikerstreit vertan, der – im Gegensatz zu 1986 – seinen Namen wirklich verdient. Scheils Bücher haben das Zeug dazu. „Fünf plus Zwei“ lüftet beherzt die Tabus, die bis heute etwa die Politik Polens in der Zwischenkriegszeit 1918 bis 1939 verhüllen sollen: die Bildung eines multinationalen Großstaates mit 30 Prozent nationalen Minderheiten (Deutsche, Juden, Ukrainer, Weißrussen, Litauer), die man zu polonisieren versuchte oder zur Abwanderung zwang wie rund eine Million Deutsche bis 1939; ein Staat, der daher mit allen seinen Nachbarn im Konflikt lag: eine überhitzt nationalistische politische Führung und Publizistik, die über Posen, Westpreußen und Danzig hin-aus auch die „altslawischen Gebiete“ Ostpreußen, Pommern und Schlesien forderte, und ein Marschall Pilsudski, der 1926 eine Militärdiktatur errichtete und „zweimal im Jahr“ den französischen Verbündeten zum gemeinsamen Angriff gegen Deutschland aufforderte, solange dieses militärisch schwach war (wie Scheil Lord Vansittard vom britischen Foreign Office zitiert). Schließlich hat Scheil in „Fünf plus Zwei“ auch keinen Zweifel daran gelassen, daß die aggressive polnische Politik im Vertrauen auf die Westmächte eine wesentliche Verantwortung für den Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 trägt. Scheil will Hitler wahrlich nicht zum „Friedliebenden“ proklamieren (wie ihm Müller unterstellt), dessen Mitverantwortung nachhaltig genug war. Aber er widmet sich der originär wissenschaftlichen Aufgabe der Auflösung geschichtspolitischer Tabuzonen, Denkverbote und Deutungsmonopole durch die fortdauernde Revision des scheinbar Festgefügten und Unumstößlichen. Seine Bücher machen deutlich, daß es hohe Zeit ist, endlich aus der Historical Correctness unserer Tage in die freieren Gewässer wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit zurückzukehren und mancherlei Holzwege der „Täter/Opfer“-Klischees zu verlassen. Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaften an der Universität Hohenheim.
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