Mit Bundeskanzler Gerhard Schröder nahm am 9. Mai erstmals ein deutscher Regierungschef an den russischen Feierlichkeiten zum Jahrestag des Kriegsendes in Moskau teil. Begleitet wurde Schröder dabei von sieben deutschen Veteranen – unter ihnen JF-Leser Lothar Scholz, der im folgenden von seinen Eindrücken der ungewöhnlichen Moskau-Reise berichtet. Als der Präsident des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge (VdK), Reinhard Führer, mich anrief, ob ich mit dem Bundeskanzler zu den russischen Siegesfeier am 9. Mai nach Moskau mitkäme, hatte ich zunächst zwiespältige Gefühle. Wie – ich sollte dorthin, wo ich acht Jahre Zwangsarbeit unter brutalsten Bedingungen verrichten mußte, wo viele meiner Kameraden buchstäblich verreckt sind? Dorthin sollte ich, um den Sieg über Deutschland zu feiern? Den Tag feierlich zu begehen, an dem 1945 zwar das Schießen aufgehört hatte, das Sterben aber weiterging? Doch schließlich sagte ich zu. Am Sonntag, den 8. Mai war ich pünktlich um 18 Uhr am Flughafen, die Kanzlermaschine „Konrad Adenauer“ der Luftwaffe stand schon auf der Piste – nomen est omen: Adenauer war es, der uns, die 9.626 letzten Deutschen in sowjetischer Gefangenschaft, 1955 nach Hause holte. Gepäckkontrolle, Ausweiskontrolle, Körperkontrolle, endlich im Flugzeug. Mit mir an Bord waren sechs andere Kriegsteilnehmer und drei Jugendliche, die wie wir Veteranen „Versöhnung über den Gräbern“ praktizieren – bewundernswerte Menschen. Jeder hatte seinen reservierten Platz, wir machten uns bekannt, ich saß neben einer Frau vom Bundespresseamt. Kurz nach dem Abflug erschien Bundeskanzler Gerhard Schröder mit seiner Frau Doris Schröder-Köpf. Er gab jedem die Hand und war angespannt. Dann verschwand der Kanzler wieder in seiner Kabine. Die mitreisenden Journalisten wären nicht Journalisten gewesen, wären sie nicht sofort ausgeschwärmt, um uns zu interviewen. Die Fernsehsender RTL und ARD, die Berliner Zeitung – ach, eigentlich alles, was Rang und Namen hat -, alles dreht sich um uns, die Gäste des Bundeskanzlers. Die Stimmung war locker, es gab zu essen und zu trinken, die Zeit verging „wie im Flug“. Mit Blaulicht durch die russische Hauptstadt Am Flugplatz Wnukowo in Moskau wartete ein Oberst, der die nächsten 24 Stunden für uns zuständig war. Die Straßen der russischen Hauptstadt waren unerwartet leer, in zwei VW-Bussen mit Blaulicht-Begleitfahrzeugen fuhren wir im Höllentempo durch die Stadt. Für uns galten keine Verkehrsregeln, selbst bei Rot ging es über die Ampeln. Moskau war für jeden Verkehr gesperrt. Der Oberst klärte uns auf, daß rund 65 Prozent der Bevölkerung auf ihre Datschen außerhalb der Stadt ausgewichen sind, um dem Trubel zu entgehen. Endlich erreichten wir unsere Unterkunft, das Kempinsky Hotel Baltschug. Ein Haus der absoluten Luxusklasse. Die umliegenden Straßen waren voller Milizfahrzeuge, an jeder Ecke standen Soldaten. Einlaß gab es nur mit Sonderausweisen, die wir inzwischen um den Hals hängen hatten. Die Journalisten wohnten im Hotel Rossija. Am 9. Mai ging es bereits um 8:45 Uhr los zum Roten Platz. Die Nebenstraßen waren durch quergestellte riesige Lastwagen abgesperrt, aber wir hatten unsere Platzkarten für die Besuchertribüne bekommen. Zwei Reihen höher saßen der Präsident des Berliner Abgeordnetenhaus Walter Momper (SPD) und der ehemalige Berliner Kultursenator Christoph Stölzl (CDU) mit ihren Damen. Wir machten uns mit unseren russischen Nachbarn bekannt: „Wo kommen Sie her? – Wie finden Sie die Veranstaltung bisher?“ Es waren fröhliche Gespräche. Dann kamen die Staatsoberhäupter: Rußlands Präsident Wladimir Putin mit Frau, dann – mit Abstand – der Bundeskanzler mit Gattin, der amerikanische Präsident George W. Bush mit seiner Frau Laura, der französische Staatspräsident Jacques Chirac, der japanische Ministerpräsident Junichiro Kuizumi und schließlich der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan. Die Festrede wurde auf Großleinwand übertragen. Schröder und Bush standen links und rechts von Putin, dessen Rede natürlich den „Sieg über den Faschismus“, die „ruhmreiche Armee“ und den Durchhaltewillen der tapferen Bevölkerung im Vordergrund hatte, aber auch die Versöhnung mit dem ehemaligen Gegner unterstrich und lobte. Ein bemerkenswerter Satz aus Putins Rede: „Wir bauen unsere Politik auf den Idealen der Freiheit und Demokratie auf, auf das Recht eines jeden Staates, sich den Weg seiner Entwicklung selbst auszusuchen.“ Dann fuhr der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow mit einem offenen Wagen zu den angetretenen einzelnen Einheiten und zelebrierte acht- bis zehnmal die gleiche Rede, worauf die Soldaten jedesmal ein infernalisches dreimaliges „Hurra“ ertönen ließen. Wer das schon im Zweiten Weltkrieg an der Front gehört hat, dem lief ein Schauer den Rücken herunter. Die Militärparade unterschied sich von den üblichen martialischen Aufzügen durch den beinahe nostalgischen Ablauf. Veteranen, die offensichtlich nicht mehr marschieren konnten, saßen auf wiederhergestellten alten Lastautos aus dem Krieg. Die Männer und Frauen, jeder mit einer roten Nelke in der Hand, winkten in die Menge. Die Menschen um uns herum schrieen aus Leibeskräften „Hurra, hurra, hurra“, es muß den alten Leuten gutgetan haben. Die nachfolgenden Einheiten marschierten in den historischen Uniformen. Viele der mitgeführten roten Fahnen trugen, wie konnte es auch anders sein, Hammer und Sichel, die Symbole der ehemaligen Sowjetunion. Allerdings fehlten – Gott sei Dank – Panzer und Raketen. Überhaupt fehlte das ganze bedrohliche schwere Kriegsmaterial. Plötzlich donnerten sechs Düsenjäger über unsere Köpfe, gefolgt von drei weiteren, die die Farben des heutigen Rußland an den Himmel malten. Die Veranstaltung, die auf die Minute genau um zehn Uhr angefangen hatte, endete auf die Minute um elf Uhr. Für uns hieß es schnell – „dawei, dawei“ – ins Hotel zum Mittagessen. Ein Fernsehinterview vor der Kreml-Mauer Anschließend gaben wir RTL ein Interview an der Kreml-Mauer, dann ging es auf zum Soldatenfriedhof nach Ljubino. Wir mußten uns beeilen: „Kameraden, wir können den Kanzler nicht im Regen stehenlassen, macht schnell.“ Links und rechts der Gedenkstätte steht ein deutscher Luftwaffensoldat. Die Kameras surrten, wieder mußten wir Interviews geben: „Was fühlen Sie, wenn Sie hier stehen?“ Dann kam der Bundeskanzler mit seiner Frau gemessenen Schrittes die im Rasen eingelassenen Steinplatten entlang. Nach der Kranzniederlegung rückte der Bundeskanzler die Kranzschleifen zurecht, eine kurze Verbeugung, dann spielte ein russischer Trompeter das Lied vom guten Kameraden. Nach der Zeremonie wartete der Kanzler vor dem Friedhof auf uns, seine Gäste, um mit jedem einige Worte zu wechseln. Wir bedankten uns. „Danke, Herr Bundeskanzler, daß Sie uns mitgenommen haben, es war ein großartiges Erlebnis.“ Es war ein lockeres Gespräch, Doris Schröder-Köpf unterhielt sich derweil mit den jungen Leuten, die uns begleitet haben. Schon ging es weiter. Der Terminkalender ließ keine langen Pausen zu. Im Hotel Präsident warteten russische Veteranen auf uns. Sie waren mit Orden übersät. Den Vorsitz der Gruppe hatte der Marschall der Flieger Alexander Nikolajewitsch Jefimow. Bunt gemischt saßen wir beieinander, ungefähr 20 Personen. Ich hatte insofern Glück, als ich mich mit meinen beiden Nachbarn auf russisch unterhalten konnte. Ihr ganzes Denken drehte sich um die vergangene Größe, sie sehnten sich nach der Sowjetunion zurück. Russen sind wahre Künstler der Rhetorik, wenn sie einmal in Fahrt kommen, brauchen sie keinen Gesprächspartner mehr. Es ging um Vorschläge zur Bildung einer internationalen Veteranenorganisation unter Hinzuziehung der Jugend. Ehe ich meinen Beitrag zur Aufnahme von Polen, das ja zwischen Deutschland und der Russischen Föderation liegt, anbringen konnte, setzten sich Schröder und Putin dazu. Auch der russische Präsident hielt eine staatstragende Rede, ich beobachtete, daß er die Kaffeetasse nicht am Henkel, sondern an der anderen Seite anfaßt, so wie ich selbst. Auch die Belagerung von Leningrad durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg kam zur Sprache – Putins Mutter wäre damals fast verhungert. Trotzdem hätten wir jetzt gute Beziehungen zueinander, wir müßten zusammenarbeiten zum Wohle beider Völker und Staaten. Gerhard Schröder griff diesen Ball auf. Er erinnerte an seinen Vater, den er nie kennengelernt hat, da er als deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. „Kein Volk hat so viele Opfer erlitten wie Rußland, aber auch wir hatten einen hohen Blutzoll zu zahlen. Es ist fast ein Wunder, daß wir nach sechzig Jahren hier gemeinsam in Frieden sitzen. Wer eine bessere Welt will, muß sich erinnern, aber jetzt sind wir auf dem richtigen Wege der Freundschaft unserer Länder“, sagte er. Deutsche Soldaten häufig als Mörder diffamiert Es war schon en Wagnis, ehemalige deutsche Wehrmachtsangehörige zu diesem Treffen von 50 Staatschefs mitzunehmen, wo noch häufig deutsche Soldaten unisono als Mörder diffamiert werden. Eine junge Russin kam auf die Idee, wir sollten ein Abschiedsfoto machen. Ein anderer Teilnehmer meinte, die deutschen und russischen Fahnen an der Saalwand würden den absolut richtigen Hintergrund abgeben, und der Zufall wollte es, daß ich direkt neben Wladimir Putin zu stehen kam. Ich habe vielleicht einen Moment Geschichte erlebt. Im Bus zum Flughafen bekamen wir sieben ehemaligen deutschen Soldaten eine Tüte mit der Aufschrift „Moskau-Kreml“ ausgehändigt, in einem blutroten Samtkästchen eine Armbanduhr mit der Gravur „Vom Präsidenten Rußlands“, zu russisch „Ot presidenta rossij“. Auf dem Heimflug schüttelten wir dem Kanzlerpaar noch einmal die Hände. Gerhard Schröder wirkte jetzt gelöst, als wäre eine Last von ihm gefallen. Ich hatte noch Gelegenheit, seiner Frau ein Kompliment zu machen. Doch, es hat sich gelohnt.
Foto: Blick von der Ehrentribüne auf die Siegesparade: Ein Aufmarsch mit beinahe nostalgischen Zügen Foto: JF-Leser Scholz im Kanzler-Airbus: Lockere Stimmung Lothar Scholz , 1928 in Berlin geboren, meldete sich im Februar 1945 freiwillig zur Wehrmacht. Am 2. Mai geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er aber bereits im August wieder entlassen wurde. Kurz darauf wurde Scholz jedoch erneut verhaftet und zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die er in mehreren Lagern, darunter auch in dem berüchtigten Lager von Workuta, verbrachte. 1955 kehrte er nach Deutschland zurück.