Unter allen Sozialwissenschaften ist die Demographie die wahrscheinlich präziseste, weil ihre Prognosen so berechenbar eintreffen – sollten nicht unvorhergesehene Kriege, Katastrophen oder Seuchen eintreten. Daher ist sie bei den politischen Wunschdenkern so unbeliebt. Ihre unerwünschten Vorhersagen werden von Politik und Gesellschaft in Europa wie in Asien gerne verdrängt, obwohl die demographischen Zeitbomben – sowohl die der Überbevölkerung wie die der Überalterung – unaufhörlich weiterticken, bis es zu spät ist. Da sind die traditionellen Gesellschaften Schwarzafrikas (drei Prozent Bevölkerungswachstum pro Jahr) und der arabischen Welt (+2,6 Prozent ), die sich munter ohne Rücksicht auf fehlende Zukunftschancen und Arbeitsplätze im Lande vermehren und wo das Bevölkerungswachstum den geringen Wirtschaftszuwachs, sofern vorhanden, mehr als aufzehrt. In Asien entsprechen neben dem Milliarden-Land Indien (das China in wenigen Jahrzehnten „überholt“ haben dürfte) und dem Sonderfall Bangladesch nur noch das 134 Millionen starke Pakistan und die 82-Millionen-Bevölkerung der Philippinen diesem Muster. Dort wächst die Bevölkerung jährlich um 2,6 Prozent. Auf den Philippinen entspricht dies 1,7 Millionen neuen Säuglinge. Der philippinische Arbeitsmarkt verkraftet aber den jährlichen Zuwachs von einer Million neuer, schlecht ausgebildeter Arbeitssuchender nicht. Die meisten verdingen sich deshalb als Haushaltshilfen, Barmädchen, Bräute, Matrosen und Hilfsarbeiter in der ganzen Welt. So wie in Vietnam, Pakistan, der Türkei oder Nordafrika wird das unbewältigte Arbeitslosenproblem ins Ausland exportiert. Das Land lebt in hohem Maße von den Gastarbeiterüberweisungen. Das gegenläufige Problem existiert in den entwickelten Industriestaaten Europas und Asiens. Dort unterschreiten die Geburtenzahlen schon seit Jahrzehnten die zum stabilen Fortbestand der Alterspyramide nötige Reproduktionsrate von 2,1 Kindern pro Frau. Am erschreckendsten sind sich von Jahr zu Jahr weiter verschlimmernden Zahlen in Italien, Spanien und Griechenland (1,2), gefolgt von Deutschland, Rumänien und Singapur (1,3) sowie Österreich und Japan (1,4). Was haben diese Länder gemeinsam? Kindergelder, Steuerbefreiungen, Mutterschafts- und Erziehungsurlaube sind gegenüber dem tatsächlichen Bedarf minimal. Gute öffentliche Kinderkrippen und Ganztagskindergärten haben Seltenheitswert. Junge Frauen fürchten um den Verlust ihrer Arbeitsplätze. Sie sehen die Mutterrolle als unattraktiv, zumal sich die Väter der Haushalts- und Erziehungsarbeit meist elegant entziehen und die Gesellschaft die Berufstätigkeit junger Mütter oft mißbilligt. Dazu kommen übertriebene elterliche Dienstleistungen für die wenigen verzogenen lieben Kleinen: Nachhilfen, Musikstunden, Sportlektionen, Geburtstagsfeiern und Konsumwünsche ohne Ende. Das Ergebnis ist, unter den üblichen Vorwänden (Autokauf, Sofaraten, Urlaubsreise, Zeitmangel), ein verheerender „Gebärstreik“ von Madrid bis Tokio. Dagegen ist die Nachwuchssituation in Irland (Reproduktionsrate 2,0), Frankreich (1,9), in Skandinavien und den Niederlanden (1,7) wesentlich höher. Voll bezahlte Erziehungsurlaube von zwölf Monaten pro Kind, mit Mindestzeiten auch für die Väter, großzügig ausgestattete kostenlose Kindertagesstätten für arbeitende Mütter, freie Gesundheitsdienste für Schwangere, Gebärende und für Kleinkinder: Diese Vorbilder werden in Japan und Singapur aufmerksam studiert, zumal die eigene Familienpolitik wie in Deutschland vor dem Scheitern steht. Das Ministerium für Sport und Stadtentwicklung von Singapur greift seit diesem Jahr deshalb zu ungewöhnlichen Mitteln: Um die dramatisch sinkende Geburtenrate zu heben, fordert die Regierung jungvermählte Paare nun schriftlich auf, Kinder zu zeugen. Bei der Trauung gibt es die Broschüre „Ein Baby planen“ Junge Eheleute erhalten künftig nach der Trauung die Broschüre „Ein Baby planen“. In dem staatlichen Magazin wird beispielsweise auf die Gefahren für Frauen hingewiesen, wenn sie sich erst spät für Nachwuchs entscheiden. Wer schon ein Kind habe, solle sich zu einem oder zwei weiteren entschließen. Die südostasiatische Stadtrepublik Singapur hatte 1965 die Zwei-Kind-Politik eingeführt. Damals stand die Reproduktionsrate noch bei 4,5. Unter Premier Lee Kuan Yew, der Singapur von 1959 bis 1990 regierte, erlebte die nur 600 Quadratkilometer große ehemalige britische Kronkolonie einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg – entgegengesetzt verlief die Geburtenentwicklung. Als Lee Kuan Yew merkte, daß die 1965 eingeführte Geburtenbeschränkung bei besser ausgebildeten Frauen stärkere Wirkung zeigte als bei Angehörigen der „Unterschicht“, befürchtete er eine „genetische Verblödung“ der Bevölkerung und führte 1984 einen Steuernachlaß von 10.000 Dollar für Mütter mit Hochschulreife und bis zu drei Kindern ein. 1987 wurde schließlich die selektive Zwei-Kind-Politik zugunsten einer Drei-Kind-Politik für alle ausgeweitet: mit Steuerrabatten, Krankenkassenzuschüssen und monatlichem Kindergeld. Zunächst blieben vierte Kinder von der Förderung ausgeschlossen, da man „Mißbrauch“ befürchtete. Seit dem Jahr 2000 wird ein „Babybonus“ von 500 Dollar für das zweite und von tausend Dollar für das dritte Kind bis zum sechsten Lebensjahr gezahlt – ähnliches sieht übrigens auch das „Kinderscheck“-Konzept der FPÖ in Kärnten vor. Dazu gibt es in Singapur monatliche Zuschüsse von 150 Dollar für die Kindergartenkosten für das erste bis vierte Kind, und Steuerrabatte von bis zu 25 Prozent. Waren die Anreize ursprünglich ausschließlich finanzieller Art, so wird mittlerweile auch die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst – einschließlich der Heimarbeitsoption – für Mütter flexibilisiert. Dennoch fällt die Geburtenrate seit 26 Jahren unaufhaltsam weiter. Mindestens 50.000 Geburten wären zum Erhalt der 3,2-Millionen-Bevölkerung nötig. 2003 wurden aber nur noch 38.000 Säuglinge geboren. Eheschließungen werden aufgeschoben – das Kinderkriegen ebenfalls, bis es zu spät ist. Die meisten Eltern klagen über hohe Schul- und Studiengebühren, den für die ganze Familie streßhaften Schul- und außerschulischen Aufwand und die teuren Konsumwünsche des raren und verwöhnten Nachwuchses. Obwohl es in Singapur 150.000 Haushaltshilfen aus Indonesien und den Philippinen gibt, die für umgerechnet 250 Euro monatlich sieben Tage die Woche von früh bis spät arbeiten, ist es immer noch bequemer, den lästigen Nachwuchs gar nicht erst in die Welt zu setzen. In Japan sieht es nicht besser aus. 1950 gebar jede Frau noch 3,6 Kinder. 2001 waren es nur noch 1,3 – Tendenz weiter fallend. Im Jahr 2025 werden 30 Prozent der Japaner über 65 sein. Das Arbeitskräftepotential wird um zehn Prozent auf 60 Millionen geschrumpft sein – legale und illegale Einwanderung findet bislang praktisch nicht statt. Das wird das japanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) wahrscheinlich um sechs Prozent vermindern, sollte nicht der technologische Fortschritt nochmals einen signifikanten Sprung machen. In hundert Jahren gibt es dann – wenn es bei der Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Frau bleibt – statt derzeit 126 Millionen nur noch etwa 30 Millionen Japaner. So erfand das Sozialministerium in Tokio das „Plus Eins“ Programm – jede Familie solle ein Kind zusätzlich zeugen – und gab umgerechnet 15 Milliarden Euro für neue Kindergartenplätze aus. 2025 gibt es in China 300 Millionen Alte über 65 Doch ebenso wie in Singapur fruchteten staatliche Appelle wenig. In japanischen Betrieben werden arbeitende Mütter weiter benachteiligt. Die Dienstleistungswirtschaft will ledige, kinderlose Frauen, die lange Stunden mobil und klaglos arbeiten können. Väter nehmen keinen Erziehungsurlaub und überlassen die Arbeit im Haushalt und mit dem (Einzel-)Kind ihren Frauen. Doch auch anderswo ticken Zeitbomben. Im Milliardenland China wird es im Jahre 2025 300 Millionen Alte über 65 geben. Im Gegensatz zu Japan werden sie arm sein, denn es gibt keine Rentenversicherung. Als Ergebnis der Ein-Kind-Politik muß ein junger Erwachsener dann für seine alten Eltern statt für den eigenen Nachwuchs sorgen. Die Geschlechtsfrüherkennung hat in China (aber auch in Indien) zum massenhaften Abtreiben weiblicher Föten geführt. So werden in China landesweit 118 Buben auf 100 Mädchen geboren, in manchen Gegenden gar 130. In Indien sind die Zahlen mit 108 Jungen auf 100 Mädchen weniger dramatisch, doch in Neu Delhi und im Punjab liegen sie auch bei 115 bzw. 126. Ein empfindlicher Mangel an Bräuten und Müttern ist die Folge dieser aberwitzigen Abtreibungspraxis. In Summe ist ein Großteil Asiens dabei, die Reproduktionsrate von 2,1 zu unterschreiten. Im Jahre 2025 wird Indien mit 1,3 Milliarden China mit 1,4 Milliarden fast eingeholt haben. Gegenüber Japan werden Vietnam und das – bis dahin wohl wiedervereinigte – Korea aufholen. Die strategischen Folgen ungleicher demographischer Entwicklungen werden also nicht nur Europa erschüttern, wo schrumpfende Völker den Willen verloren haben, dem Migrationsdruck zu widerstehen, der von der Türkei, Nord- und Schwarzafrika ausgeht. In Nordostasien ist die Situation am akutesten. Nur noch sieben Millionen Russen bewohnen die kaum entwickelten, aber wald- und rohstoffreichen Fernostprovinzen östlich des Baikalsees. Ihnen gegenüber leben 130 Millionen Chinesen in der abgewirtschafteten Mandschurei und 25 Millionen Nordkoreaner, die in bitterer Armut und Hunger ihr Leben fristen. Seit 1991 erleben die russischen Fernostprovinzen – in denen Korruption, Gesetzlosigkeit und die unwirtliche Natur Investoren aller Art abschrecken – einen andauernden Bevölkerungsschwund um zehn Prozent. Die meisten wandern in den Westen Rußlands zurück. Die 200.000 Einwohner der 1928 von Stalin eingerichteten Jüdischen Autonomen Republik von Birobidschan sind inzwischen schon fast alle in Israel, den USA oder Deutschland. Zwei Drittel des nutzbaren sibirischen Ackerlandes liegen derzeit brach. Wegen des akuten Arbeitskräftemangels in der Industrie, der Bau-, Land- und Forstwirtschaft werden deshalb Chinesen, Nordkoreaner und Vietnamesen angeworben. Ein Nordkoreaner arbeitet auf einer sibirischen Baustelle für weniger als umgerechnet hundert Euro im Monat. Ein Russe erwartet mindestens das Doppelte. Offiziell leben im russischen Fernost derzeit 400.000 Chinesen. Die Dunkelziffer wird auf das Fünffache geschätzt – Tendenz schnell steigend. Allein die an Nordkorea und China grenzende Provinz Wladiwostok empfängt jährlich 320.000 ausländische Zuwanderer. 75 Prozent davon sind Chinesen, der Rest Nordkoreaner und Vietnamesen. Offenkundig nähert sich die russische Siedlungsgeschichte Ostsibiriens, die im 17. Jahrhundert einsetzte, ihrem Ende. Die einst stolze 800 Kriegsschiffe starke Pazifikflotte ist auf 115 Schiffe zusammengerostet. Das Erbe der Rolle Rußlands im Pazifik wird vom chinesischen Hegemon übernommen werden. Für die Chinesen ist das kein Grund zu neuem Triumphgeschrei. Schon vor tausend Jahren unterhielten sie in Sibirien Handelsposten. Die letzten chinesischen und koreanischen Siedlungen waren von Stalin 1938 zerstört und ihre Einwohner vertrieben worden. Foto: Vorschulkinder mit Lehrerin in Singapur: Steuernachlaß für Mütter mit Abitur und bis zu drei Kindern