Aus Protest gegen vermeintlich antisemitische Äußerungen von Kornél Döbrentei, der im Vorstand des ungarischen Schriftstellerverbands sitzt, sind im März 84 ungarische Autoren aus dem 1.200köpfigen Verband ausgetreten, darunter auch in Deutschland bekannte Autoren wie Péter Esterházy, Péter Nádas und der frühere Präsident der Berliner Akademie der Künste, György Konrád. Damit hat ein Streit, der sich schon seit Monaten hinzieht, seinen vorläufigen Abschluß gefunden. Döbrentei wird von den Ausgetretenen zur Last gelegt, daß er immer wieder „antisemitische Klischees“ bediene. So habe Döbrentei vor laufenden Kameras auf die Nachricht vom Nobelpreis für Imre Kertész erklärt, dieser sei dafür belohnt worden, daß er mit seinem Holocaust-Roman die unausgesprochene Kollektivschuld eines Volkes suggeriere. In Ungarn gebe es „nämlich den Geschmacksterror einer Minderheit, der der betreffende Herr angehört“. Das Faß zum Überlaufen brachte Döbrenteis Rede am 11. Januar vor dem Gebäude des Senders „Tilos Rádió“. In der verharmlosenden Diktion der Schriftstellers István Eörsi hat ein „betrunkener Moderator“ dort zu Weihnachten 2003 verkündet, „er wünsche sich, die Christen auszurotten“. Aber alle im Studio anwesenden Mitarbeiter hätten sich sofort von dem „unglücklichen Kollegen“ distanziert, dem der Sender „noch am selben Tag kündigte“. Die etwa 4.000 Demonstranten am 11. Januar hätten also nicht mehr gegen den Moderator protestiert, sondern forderten die endgültige Schließung des Senders. Was nach Eörsi ein einmaliger Unfall war – die Verunglimpfung der Christen – ist bei den „linksgerichteten Avantgardisten“ (Eörsi über Tilos) Programm. Denn schon am 9. Dezember 2003 hatte ein Tilos-Redakteur gefordert, man müsse die in Budapest aufgestellten Kreuze zu Brennholz verarbeiten. Und vor dem Aufruf zum Christenmord diskutierten der „betrunkene Moderator“ und sein Kollege in obszöner Weise, ob Franz von Assisi Sex gehabt habe. Auf der Demonstration gegen Tilos wetterte Döbrentei „gegen den auf die Vernichtung unseres Volkes abzielenden, im religiösen Gewand geführten unversöhnlichen Krieg“ und gegen den „moralischen Holocaust des Ungarntums“, der von „falschen Propheten“ geführt werde. Eine Gruppe um Nádas forderte den Schriftstellerverband auf, den Fall zu prüfen und Döbrentei rauszuwerfen. Dem kam der neunköpfige Vorstand nicht nach. Man sei keine Gedankenpolizei, lautete die Begründung, es herrsche in Ungarn Meinungsfreiheit. Außerdem sei der Verband immer bestrebt, sich von der Politik fern zu halten. Ihre Mitglieder würden daher nicht auf ihre politische Gesinnung hin überprüft. Bereits nach der Rede vom 11. Januar habe Lajos Nagy Parti den Schriftstellerverband verlassen, bemüht István Eörsi in der Berliner Zeitung vom 16. März einen weiteren „hervorragenden Dichter“ als Kronzeugen. Zur gleichen Zeit verteidigte sich Döbrentei in der bürgerlichen Tageszeitung Magyar Nemzet, und erklärte, seine Rede sei nichts anderes gewesen, als die Verurteilung der seit den fünfziger Jahren anhaltenden „antichristlichen Tendenz“. Beim Aufruf zum Christenmord geschwiegen Dem Literaten Nagy Parti wirft er vor, in anderen Fällen nicht so feinfühlig gewesen zu sein. Zum Beispiel als György Spíró sein Gedicht „Es kommen die Tiefgangungarn aus der Scheiße“ verfaßt habe, als nach 1990 noch etliche „Dichter“ mit Stasi-Vergangenheit Verbandsmitglieder waren, als György Petri seine Verse „Es ruckelt die heilige Familie, Gott stopft Maria…“ zum Besten gab oder als der ehemalige Staatspräsident Árpád Göncz die Heilige Stephanskrone als „Schweizer Mütze“ verunglimpfte. Vielleicht wäre der 11. Januar gar nicht so groß thematisiert worden, wenn dabei nicht eine Israel-Fahne verbrannt worden wäre. Das Anliegen der Demonstrierenden war damit auf einen Schlag diskreditiert, die linksliberalen Medien warnten vor „wachsendem Antisemitismus“. Die Täter Richard G. (27) und Miklós B. (40) wurden verhaftet, ihnen droht Anklage wegen Volksverhetzung. Nachdem sie bei dem Aufruf zum Christenmord geschwiegen hatte, meldete sich diesmal auch die hohe Politik zu Wort. Ministerpräsident Péter Medgyessy – Ex-Kommunist und in der Kádár-Ära als Geheimdienst-Spitzel D-209 aktiv (JF 27/02) – gab seiner Empörung über die verbrannte Fahne freien Lauf. Das oppositionelle bürgerliche Lager vermutete eine gezielte Provokation. Fidesz-Sprecher János Áder sah sogar Parallelen zwischen dem Tilos-Brand und dem Berliner Reichstagsbrand von 1933. In dieser aufgeheizten Stimmung schenken sich beide Lager nichts. Deutlich wurde das auch bei der leidenschaftlichen Diskussion, ob man dem Graf Pál Teleki ein Denkmal setzen dürfe. Der Ministerpräsident beging 1941 Selbstmord, nachdem ungarische Truppen mit deutscher Duldung in das jugoslawische Banat einmarschiert waren. Das Gebiet gehörte bis 1921 zum Königreich Ungarn, der Einmarsch wurde daher von Reichsverweser Admiral Miklós von Horthy als legitime Rückeroberung deklariert. Teleki sah seine Ehre befleckt, weil er den Nichtangriffspakt mit Jugoslawien verraten glaubte. Die moralische Größe Telekis wird kaum in Zweifel gezogen. Das Problem war allerdings, daß Teleki auch die „Numerus Clausus“-Gesetze unterzeichnet hatte, wonach jüdischen Ungarn nur im Verhältnis ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung Zutritt zu den Universitäten gewährt wurde. Sein Denkmal war damit schon vor der Enthüllung gestürzt. Denn Budapests linksliberaler Oberbürgermeister Gábor Demszky zog seine zunächst erteilte Baugenehmigung zurück, als „einflußreiche Kreise“ begonnen hatten, eine Kampagne gegen Teleki und seine Befürworter zu fahren. Daß Josef Stalin nach wie vor Ehrenbürger Budapests ist, wurde von Eörsi hingegen nie thematisiert. Als Kornél Döbrentei am 13. März mit dem British-Airwaiys-Flug 869 nach New York fliegen wollte, wurde er von dem Kapitän wieder zum Aussteigen genötigt, weil er ein „Sicherheitsrisiko“ sei. Dieser „harmlose“ Zwischenfall zeigt die Brisanz der ungarischen Debatte. Foto: György Konrád: 84 Autoren verließen den Schriftstellerverband