Der scheidende EU-Kommissar Frits Bolkestein hat in einer Rede an der niederländischen Universität Leiden den EU-Beitritt der Türkei kritisiert und vor einer Islamisierung Europas gewarnt. Eine steigende Zuwanderung aus islamischen Ländern sei zu befürchten, weil die europäische Bevölkerung im Gegensatz zu der aus Nordafrika und dem Nahen Osten altere. Eifrig bemühte Brüssel sich letzte Woche, die Rede des unbequemen Politikers herunterzuspielen.
Die Pieterskerk (Peterskirche) im niederländischen Leiden war am 6. September 2004 zum Bersten voll. Viele Besucher, die kurz vor der Rede des rechtsliberalen Politikers zur Eröffnung des akademischen Jahres einen Platz suchten, mußten stehen. Angekündigt war eine Rede über „Unterricht und Forschung aus europäischer Perspektive“. Doch es kam anders. Bolkestein nutzte die Gelegenheit für eine ausgesprochen EU-kritische Rede. Anhand der Geschichte Österreich-Ungarns sprach Bolkestein über Einheit und Freiheit in Europa. Wie die Donaumonarchie sei die Europäische Union ein „Vielvölkerstaat“. Dies führe zu bestimmten Problemen, die nur durch eine dezentrale Verwaltung gelöst werden könnten. Bolkestein warnte vor einer „Brüsseler Planwirtschaft“. Der langjährige Vorsitzende der niederländischen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) griff damit auf Positionen zurück, die er als EU-Skeptiker schon vor seiner Berufung nach Brüssel bezogen hatte. Überraschender waren denn auch seine Worte zum geplanten EU-Beitritt der Türkei und seine Warnung vor einer Islamisierung Europas. Bolkestein warnte vor einem Beitritt des armen, islamisch geprägten Landes. Die Identität der Türkei werde sich bis zu ihrem Beitritt „grundlegend verändern müssen“. Auch sollte man bedenken, daß der Beitritt „eines Landes mit 68 Millionen Einwohnern heute – und 83 Millionen im Jahre 2020“ auch die EU stark ändere. Europa sei „innerlich zerbrechlich“, so Bolkestein. „Immer mehr europäische Staaten werden multi-ethnisch durch eine immer größer werdende islamische Gemeinschaft. In manchen Großstädten stellen Bürger nicht-westlicher Herkunft in zehn Jahren die Mehrheit. Außerdem veraltet die Bevölkerung Europas, während die Bevölkerung in Nordafrika und im Nahen Osten rasch wächst. Der Immigrationsdruck aus dem Süden wird folglich gewaltig zunehmen.“ Bolkestein zitierte den US-Islamforscher Bernard Lewis, der behauptete, Europa werde am Ende dieses Jahrhunderts mehrheitlich islamisch sein: „Europa wird ein Teil des arabischen Westens sein, ein Teil des Maghrebs. Migration und Demographie weisen in diese Richtung“. Bolkestein: „Ich weiß nicht, ob es diesen Lauf nehmen wird, aber sollte Lewis recht behalten, wäre die Befreiung von Wien (von der Belagerung der osmanischen Türken – J.S.) 1683 vergebens gewesen.“ Während die amerikanische Bevölkerung wachse, veralte die europäische Bevölkerung und nehme ab. Die derzeitige Tendenz lasse nur eine Folge zu, so Bolkestein: „Die USA bleiben jung und dynamisch. China entwickelt sich zu einem Wirtschaftsriesen. Europa islamisiert.“ Wer die Türkei in die EU aufnehmen wolle, könnte sich auch nicht länger dem Beitritt der Ukraine und Weißrußlands zur EU widersetzen, weil diese Länder „europäischer“ seien als die Türkei, so Bolkestein. Und mit vierzig Völkern sei es unmöglich, eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik zu entwickeln. Mit einer Fassadenpolitik aus Erklärungen, Subventionen und Symbolen regiere man am Bürger vorbei. Die EU könne nur erfolgreich sein, wenn sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentriere. „Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft von Nationalstaaten, die sich dazu entschlossen haben, bestimmte Aufgaben föderativ zu bewältigen, es ist keine sich bildende Föderation, die sich in alle Bereiche einmischt.“ „In der Beschränkung“, schloß Bolkestein seine Rede auf deutsch, „zeigt sich der Meister“. Was Bolkestein in seiner Rede nicht betonte, was aber viele seiner Landsleute euroskeptisch stimmt, ist, daß die Niederlande gemessen an der Wirtschaftskraft den größten Beitrag für die Union zahlen. Deutschland zahlte im vergangenen Jahr – laut einem von der EU-Kommission vorgelegten Bericht über die EU-Ausgaben 2003 – knapp 7,7 Milliarden Euro mehr in den EU-Haushalt ein, als Gelder nach Deutschland zurückflossen. Das entsprach 0,36 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE). Die Niederländer zahlten zwar nur knapp zwei Milliarden Euro mehr an Brüssel, als sie zurückbekamen, dabei handelt es sich aber um 0,43 Prozent des BNE. Als eines der kleineren EU-Länder haben die Niederlande nur geringen politischen Einfluß auf die Brüsseler Bürokratie.
Bolkestein bezog in seine Rede eine ganz andere Position als die des EU-Erweiterungskommissars Günther Verheugen (SPD), der letzte Woche den „beeindruckenden Fortschritt“ der türkischen Reformpolitik lobte. Verheugen meinte, daß es jetzt ausreichend Material für eine „klare und feste Entscheidung“ gebe. Bundesaußenminister Joschka Fischer bezeichnete die Türkei in einem Bild-Interview gar als „zentralen Baustein Europas“. So ist kaum überraschend, daß die EU-Kommission versuchte, die Bedeutung der Rede Bolkesteins herunterzuspielen. Die EU-Kommissare hätten das Recht, ihre persönliche Meinung kundzutun, sagte der Sprecher von Kommissionspräsident Romano Prodi einen Tag nach Bolkesteins Leidener Rede. Der Kommissar habe an keiner Stelle gefordert, daß die Türkei nicht der EU beitreten solle. Bereits in seinem letzten Buch „Europas Grenzen“ (2004) hatte Bolkestein gegen den EU-Beitritt der Türkei polemisiert. Auch in seiner Rede an der Universität Leiden sprach Bolkestein offen aus, was viele – nicht nur in den Niederlanden – in ihrem Innersten denken. Bolkestein ist bei der niederländischen Rechten noch immer einer der beliebtesten Politiker, weil er als einer der wenigen vor Pim Fortuyn die Probleme der „multikulturellen Gesellschaft“ offen beim Namen nannte. In der um Konsens bemühten Atmosphäre der niederländischen Politik wirkte Bolkestein mit seinen konservativ-liberalen Positionen oft wie ein erfrischender Wirbelwind. Seine Ansichten zur Einwanderungspolitik und zur Unvereinbarkeit westlicher und muslimischer Werte kamen in den Niederlanden Anfang der neunziger Jahre einem Tabubruch gleich. Auch beklagte er wiederholt die selektive Erinnerung linker Medien und ihre „weiche“ Haltung gegenüber den Verbrechen des Kommunismus. Über die Diskussion sensibler politischer Themen versuchte Bolkestein, die Meinungsführerschaft in der durch die Linke beherrschten politischen Diskussion zurückzugewinnen. Bolkestein galt denn auch als Schrecken des „Grachtengordels“, der linksliberalen, in den Grachten der Hauptstadt angesiedelten meinungsführenden Elite des Landes. In diesem Jahr beendet Frits Bolkestein seine aktive politische Karriere. Der diplomierte Jurist und Philosoph übernimmt eine Professur für intellektuelle Ideengeschichte in Leiden – seine Stimme wird in Brüssel fehlen. Foto: Niederländer Frits Bolkestein: China entwickelt sich zu einem Wirtschaftsriesen – Europa islamisiert / EU-Bewerber Türkei: Etwa 83 Millionen Einwohner im Jahre 2020
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