Am 9. Juli taucht morgens auf der Polizeiwache von Aubervilliers, einem Vorort im Norden von Paris, eine 23jährige Frau mit zerrissenen Kleidern auf, die behauptet, in der S-Bahn Opfer eines antisemitischen Übergriffs geworden zu sein. Vier der Angreifer seien maghrebinischer und zwei afrikanischer Herkunft gewesen. Daraufhin folgte eine ganze Reihe von Betroffenheitsbekundungen. Präsident Jacques Chirac war „bestürzt von diesem Drama“, er drückte ebenso sein „Entsetzen“ aus wie Innenminister Dominique de Villepin, der von einem „schändlichen Angriff“ sprach. Roger Cukierman, der Vorsitzende des Repräsentativrates der jüdischen Institutionen Frankreichs (CRIF) forderte, „die Imame der Vorstädte, aus denen die Angreifer stammen, sollten sich zu Wort melden und deutlich machen, daß antisemitische Akte unerträglich sind“. Zwei Protestkundgebungen wurden für den 12. Juli geplant, eine zu der die Kommunisten (PCF) aufgerufen hatten, und eine zweite, zu der der sozialistische Präsident der Hauptstadtregion Île de France, Jean-Paul Huchon, einen Aufruf gestartet hatte. Am Morgen des 12. Juli wurde die junge Frau sogar von der für Kriminalitätsopfer zuständigen Staatssekretärin Nicole Guedj empfangen. Einzig der rechte Front National (FN) relativierte den Vorfall, indem er betonte, dies sei nichts im Vergleich zu den wiederholten Sexualverbrechen an Kindern, wie etwa den an der kleinen Jeanne-Marie im Elsaß. Am 13. Juli war alles anders: Nach einer Aussage einer Verwandten des mutmaßlichen Opfers und ihrem folgenden Geständnis war klar, daß es sich bei dieser Episode um eine reine Erfindung handelte. Beschämung und Verwirrung allerorten, aber auch die Bekräftigung der Position, es sei richtig und notwendig gewesen, sofort zu reagieren, weil diese Art des Verbrechens in Nahverkehrszügen und den Straßen der Pariser Vorstädte alltäglich sei. So sagte Jacques Chirac in seiner Festrede zum 14. Juli, dem Nationalfeiertag: „All dies ist außerordentlich bedauerlich. Aber ich bereue nichts. Wir befinden uns in einer Periode, in der sich Rassismus in Gewalttaten äußert, die aus dem einzigen Grund begangen werden, daß die jeweiligen Opfer dieser oder jener Gemeinschaft angehören. Dies ist nicht hinnehmbar.“ Und Chirac weiter: „Wenn jemand Manipulationen vornimmt, muß derjenige ganz einfach mit aller Härte des Gesetzes bestraft werden.“ Die junge Frau wird sich daher ab 26. Juli wegen Vortäuschens einer Straftat vor dem Strafgericht in Poissy bei Paris verantworten müssen. Nachdem der wahre Sachverhalt nun bekannt ist, begehren zahlreiche Moslems gegen eine Verunglimpfung ihrer Gemeinschaft auf, die ohne jeden Beweis von dem vermeintlichen Opfer und den Medien gebrandmarkt worden sei. Doch der ganze Vorgang muß vor dem Hintergrund des zuweilen äußerst virulenten Konflikts zwischen der jüdischen und der islamischen Gemeinschaft in Frankreich gesehen werden. Der durch die Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern noch verschärfte Konflikt führt zu direkten Konfrontationen in den Vorstädten, in den Schulen und eben auch recht häufig in öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Schutz der Anonymität bestätigte ein S-Bahn-Zugführer gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, daß dies nicht die erste junge Frau gewesen sei, die angegriffen wurde und sie werde auch nicht die letzte sein. Ein Mitarbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP) erklärte, daß es auf der S-Bahn-Linie RER-D ständig zu Angriffen auf Fahrgäste und zu Diebstählen komme. So sei das eben in der „Banlieue“ – den trostlosen Plattenbauten der Peripherie. Zudem wird der Konflikt von Extremisten beider Seiten angeheizt. Einige jüdische Extremisten spielen mit dem Vorwurf des Antisemitismus, indem sie Kritiker der Politik von Premier Ariel Scharon des Hasses auf das jüdische Volk bezichtigen. Die arabische Seite kontert mit dem Vorwurf des Rassismus, und wendet sich zu weilen sogar dem Antisemitismus zu. Durch diesen Konflikt ziehen sich die jeweiligen Gemeinschaften immer mehr auf sich selbst zurück, was die „soziale Fragmentierung“ verschärft. Ein Ausdruck dessen war auch die Auseinandersetzung um das Tragen des islamischen Kopftuchs in der Schule (siehe JF 52/03). Da das Kopftuch in der Schule gegen die in Frankreich geltende Laizität verstößt, wurde in diesem Jahr ein Gesetz erlassen, das ab kommendem Schuljahr allen Religionen verbietet, ihre Symbole im öffentlichen Raum demonstrativ zur Schau zu stellen. Die Rivalität zwischen beiden Gruppen äußert sich auch in Schändungen jüdischer Friedhöfe oder Gewalt gegen Geschäfte. Es gibt häufig tätliche Auseinandersetzungen zwischen Schülern öffentlicher oder privater Schulen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit. Viele Lehrer haben Schwierigkeiten, den Holocaust, den Algerienkrieg oder die Kolonialkriege im Unterricht von gemischten Klassen zu thematisieren. Frankreich hat ein Integrationsproblem, dem es sich stellen muß. Erneut sprach Chirac am 14. Juli daher vom „Imperativ einer Kultur des Dialogs“ – und dies in einem Land, in dem man sich eher zu Konfrontationen hinreißen läßt. Parallelgesellschaften entwickeln sich: Vorstädte, die selbstgewählt zu einer Art Ghettos werden, physischer Ausdruck des Rückzugs auf sich selbst. Häufig sind Einwanderer der zweiten und dritten Generation aus den ehemals französischen Kolonien immer noch nicht integriert. Viele weigern sich, die französische Kultur anzunehmen, obwohl sie in Frankreich geboren sind und die Staatsbürgerschaft besitzen. Man merkt es unter anderem auch an der Schwierigkeit, die manche beim Erlernen des Lesens und Schreibens haben. Dennoch sollte kein ausschließlich negatives Bild gezeichnet werden. Es gibt auch zahlreiche Beispiele perfekt integrierter und angesehener Persönlichkeiten: so der Fußballnationalspieler Zinédine Zidane oder die 45jährige Staatssekretärin für nachhaltige Entwicklungspolitik, Tokia Saïfi, von Präsident Chiracs Regierungspartei UMP. Foto: Bäckerei im jüdischen Viertel von Paris: Die Imame der Vorstädte sollten sich zu Wort melden