Am 7. Dezember wird die russische Staatsduma gewählt, und im Vorfeld der Parlamentswah-len sollen die Bürger der Russischen Föderation möglichst zufrieden und positiv gestimmt werden. Einerseits um so eine hohe Wahlbeteiligung zu erzielen – andererseits um nicht allzuviele „Fruststimmen“ zu riskieren. Passend dazu wurden Anfang November Daten einer 2002 durchgeführten Studie veröffentlicht, die jeden Russen stolz machen: So ordneten sich an die 49 Prozent der „Rußländer“ (Kunstwort für die Bürger Rußlands, die 160 Völkern entstammen) der sozialen Mittelschicht zu. Die Zahl derer, die sich gar als „reich“ empfinden, hat sich in den letzten vier Jahren mehr als verdoppelt und macht heute sieben Prozent der russischen Bevölkerung aus. Und wer nach jahrelanger Unterbrechung jetzt erstmals wieder nach Moskau oder St. Petersburg kommt, den erstaunen nicht nur die schicken Geschäfte, luxuriösen Hotels sowie die mondänen Restaurants, sondern nicht minder die mit Mailänder Schick aufgemachten Frauen. Noch vor ein paar Jahren wurde man dagegen mit Statistiken über steigende Kriminalitäts- und Selbstmordraten konfrontiert, mit Berichten über den in allen sozialen Schichten grassierenden Alkoholismus, über Not und Hunger leidende Straßenkinder, über eine peinliche Rate des Analphabetentums – kurz und gut, über die zum Usus gewordene russische beznadjoga („Hoffnungslosigkeit“). Heute, nach nur drei Jahren der Präsidentschaft Wladimir Putins, scheint die russische Gesellschaft eine fabelhafte Wende durchgemacht zu haben. Die verantwortlichen Beamten des Moskauer Staatlichen Statistikamtes (Goskomstat) geben sich diesbezüglich zuversichtlich. „Vielversprechend“ nennen sie die Ergebnisse der letzten Volkszählung. Nimmt man jedoch die Statistik-Zahlen genauer unter die Lupe, so kommen ganz andere Tatsachen zum Vorschein: Im Vergleich zu 1997 hat sich das durchschnittliche Monatseinkommen nur gering verbessert – nicht mehr umgerechnet 180, sondern ganze 185 US-Dollar sind es 2002. Kritische Soziologen meinen, daß die russische Mittelschicht nur zwei Prozent der Bevölkerung ausmache, andere behaupten hingegen, es seien 60 Prozent. Nimmt man fünf Kriterien als Maßstab für eine „Mittelklasse“ (Monatseinkommen, Besitz vom privatem Eigentum, hoher beruflicher und gesellschaftlicher Status, Hochschulbildung und Erfolg unter den Bedingungen der Marktwirtschaft), dann käme eine traurige Wahrheit zutage: Von einer Mittelschicht kann in Rußland keine Rede sein – selbst zwei Prozent scheinen da optimistisch geschätzt. Das moderne Rußland nähert sich nicht mittel- oder westeuropäischen, sondern lateinamerikanischen „Verhältnissen“. l Zum einen sind es die „Konsumenten“ – Menschen mit einer pro-westlichen Orientierung, die Zugriff auf ausländisches Kapital haben und davon leben. Dazu zählt man die Mitarbeiter diverser in Rußland angesiedelter westlicher Unternehmen bzw. das Personal von Joint-Venture-Firmen. l Zum zweiten wären da die „Verarmten“, Menschen, die ihren ehemals relativ hohen gesellschaftlichen Status zwar eingebüßt haben, aber dennoch weiterhin auf ihrer besonderen intellektuellen Rolle in der Gesellschaft bestehen. Darunter wären Vertreter der alten sowjetischen Intelligenzija zu zählen: Ärzte, Lehrer, Universitätsdozenten, Ingenieure sowie wissenschaftliche Mitarbeiter von Forschungsinstituten, deren Tätigkeit in der Regel unterbezahlt wird. l Zum dritten gibt es die „unkultivierten Mittelkläßler“, die Menschen, die oft niederen Schichten oder gar kriminellen Milieu entstammen und ihren gesellschaftlichen Aufstieg nicht selten mit unlauteren Mitteln errungen haben. In diese Kategorie werden übrigens teilweise kriminelle und korrupte Staatsbeamte und Politiker eingereiht. Nach westlichen Vorstellungen gehören die zur sozialen Mitte, die sich einen Immobilienerwerb leisten können, die ihren Urlaub regelmäßig im Ausland verbringen und die sich durch ein relativ hohes politisches Engagement auszeichnen. Nur sieben Millionen haben einen Reisepaß Wenn man die Verhältnisse in Rußland nach all diesen Merkmalen bewertet, so sieht man die ohnehin fast virtuell vertretene Mittelschicht mit nahezu phantastischer Geschwindigkeit schwinden: Zum Beispiel beträgt die Wohnungsbaurate in Rußland nur 30 Millionen Quadratmeter statt zu erwartender 80. Nur zwei Prozent der Bevölkerung sind Mitglied in einer Partei oder Vereinigung. Und Auslandsurlaub könnten die angeblich zahlreichen Mittelkläßler ohnehin nicht machen: Nur sieben von 110 Millionen erwachsenen Rußländern haben einen Reisepaß! Angesichts solcher Zahlen erscheint die derzeitige juristische „Oligarchenjagd“ auf die neureichen Milliardäre wie Boris Berezowskij, Michail Chodorkowskij und Roman Abramowitsch (siehe JF 46/03) in einem ganz anderen Licht: Glaubt man aktuellen Medienberichten, dann sind die meisten Bürger Rußlands gegen eine allumfassende Macht der Wirtschaftsmagnaten und für eine Neugestaltung der in der Jelzin-Ära stattgefundenen Privatisierungen. Und Lenins These bleibt immer noch aktuell: Rußland war und ist ein Staat, in dem der Antagonismus zwischen den Vertretern des Großkapitals und der Bevölkerung enorm groß geblieben ist. Die Russen würden jeder gegen sie gerichteten Strafmaßnahmen des Staates, wie gerechtfertigt auch immer, zustimmen – sprich: das kommt beim Wähler an. Eine repräsentative Studie der unabhängigen russischen Agentur Romir Monitoring in Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsmagazin Expert und der Vereinigung Delowaja Rossija kommt aber zu überraschenden Ergebnissen. So wurden 1.742 Bürger aus über hundert Städten Rußlands im Alter ab 16 Jahren dazu befragt, was sie von der freien Marktwirtschaft, dem privaten Unternehmertum, dem Privateigentum und von einer möglichen Wiederverstaatlichung des nun privatisierten ehemaligen Staatseigentums halten. Dabei kam heraus, daß eine Verstaatlichung genausowenig willkommen ist wie eine Wiedereinführung der Planwirtschaft: 81 gegen 16 Prozent der Befragten gaben an, die Anerkennung des Privateigentums sei für die postsowjetische Gesellschaft notwendig gewesen, 65 gegen 28 Prozent der Befragten vertraten die Meinung, die marktwirtschaftlichen Reformen in Rußland seien von essentieller Bedeutung gewesen. Laut Romir-Studie gibt es eine markante gesellschaftliche „Wasserscheide“: l Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die Entwicklungen der letzten zehn Jahre samt allen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen vollkommen unterstützen. Es sind hauptsächlich Menschen im Alter bis 45 Jahre, eine Generation, die zu Beginn der Reformprozesse noch jung und „unverbraucht“ war und sich im sowjetischen Regime nicht etabliert hatte. Diese Menschen sind in der Regel sozial aktiv, und – was noch wichtiger erscheint – sie machen einen sehr großen Anteil der Bevölkerung aus. Diese Menschen sind potentielle Wähler der liberalen Union der Rechten Kräfte (SPS) und Jabloko, sie unterstützen aber auch zahlreich die Putin-Partei Jedinaja Rossija („Einheits-Rußland“). l Andererseits gibt es diejenigen, die die „Wende“ ablehnen. Es sind überwiegend die über 60jährigen, die über ein niedriges Einkommen verfügt, keine Hochschulbildung hat, aber markanterweise ein hohes politisches Engagement aufweist. Sie setzen ihre Hoffnungen in die KP und andere linke Parteien. Erstaunlich ist: 55 Prozent der Befragten gaben an, in einem privaten Großunternehmen arbeiten zu wollen, wobei der Anteil der KP-Anhänger unter diesen Menschen 21 Prozent ausmachte! 88 Prozent der Befragten haben Sympathie für die kleinen und mittleren Unternehmen. Verständnis für die Tätigkeit der Großunternehmen bringen lediglich 66 (gegen 29) Prozent der Befragten mit. Nur 44 (gegen 53) Prozent zeigten ihre Solidarität mit den derzeit bedrängten „Oligarchen“. Nur der Gruppe der 16- bis 24jährigen ist jeglicher Neid auf den fremden Reichtum und auf den Erfolg der „Oligarchen“ fremd. Davon, daß die Tätigkeit der privaten Großunternehmen einen wesentlichen Beitrag zur weltweiten Anerkennung des russischen Staates leiste, waren ganze 70 Prozent der Studienteilnehmer überzeugt. 79 Prozent der Russen für ost-westlichen Mittelweg Doch die juristische Jagd auf Jelzins „Wirtschaftszöglinge“ Berezowskij und Chodorkowskij könnte sich zumindest an der Wahlurne auszahlen: Antisemitische Ressentiments haben sich für russische Politiker jeder Couleur meist als nützlich erwiesen. Am Vorabend der Duma-Wahlen rücken Werte wie Patriotismus, das internationale Prestige Rußlands und die Stellung des eigenen Landes in der Welt immer mehr in den Vordergrund. Vertreter fast aller politischen Gruppierungen versuchen mit Hilfe dieser Begriffe Sympathien ihrer Wähler zu gewinnen. Die Wörter „Rossija“, „Rus“ (beides für „Rußland“), „Vaterland“ und „unsere Heimat“ werden entweder direkt in den Namen der Partei gesetzt, oder sie stehen in den ersten Zeilen der Wahlprogramme aller Parteien. Was verbinden die Russen eigentlich mit dem Begriff der Heimat? Darauf könnte eine vor kurzem durch die Zeitung Nesawissimaja Gaseta durchgeführte Umfrage eine Antwort liefern. Danach assoziieren 31 Prozent der Russen den Begriff des Vaterlandes mit „der russischen Natur“, für weitere 30 Prozent ist es die „Gestalt der eigenen Mutter“, für jeweils 17 Prozent der Befragten ist es „ein typisch russisches Dorf“ bzw. „die russische Frau“, jeweils acht und drei Prozent wählten dafür die Gottesmutter bzw. den Bären. Weitere elf Prozent gaben an, sich durch die alten politischen Werte leiten zu lassen: Für sie sei es die Gestalt der Frau auf dem Weltkriegsplakat „Mutter Heimat ruft nach Euch!“ Doch nur 21 Prozent der Befragten meinen, Rußland sei „ein großer Staat“ (im Sinne von bedeutend), 20 Prozent unterstützten die eher der amerikanischen „my country, right or wrong“-Mentalität entsprechende Fassung der Aussage: „Egal, wie sich Rußland verhält, es ist mein Land und ich stehe dazu“. Für einen „besonderen, eigentümlichen Entwicklungsweg ihres Staates“, für einen Mittelweg zwischen dem westlichen und dem östlichen Entwicklungsmodell, plädierten ganze 79 Prozent der Befragten, und nur elf Prozent sprachen sich für das Modell nach dem Muster der westlichen Demokratien aus. 25 Prozent der Befragten gaben an, Rußland habe nichts, worauf es stolz sein könnte. Daß man auf sein Volk bzw. auf seinen Präsidenten bzw. auf die alten Traditionen seines Landes stolz sein muß, war der Gedanke von jeweils 16, zwölf und elf Prozent der Umfrageteilnehmer. Auf typisch sowjetisch anmutende Werte wie „Errungenschaften in der Wissenschaft und Technik“ sowie „Rußlands hohe Leistung auf dem Gebiet der Waffenproduktion und in der Weltraumforschung“ zeigten sich jeweils nur ein Prozent der Befragten stolz. In einigen demographischen Daten scheint sich Rußland westlichen Standards hingegen mit gewaltigen Schritten zu nähern: Die Rußländer werden immer weniger und immer älter (Durchschnittsalter 37,3 Jahre) – trotz gesunkener Lebenserwartung. Nach aktuellen Zahlen leben auf dem Territorium der Russischen Föderation noch 145,2 Millionen Menschen. Und trotz aller sozialer Probleme scheint dieses flächenmäßig größte Land der Erde für legale wie illegale Einwanderer aus verschiedenen Ecken der Welt verlockend zu sein. Naturgemäß sind es größtenteils Russen aus Ex-Sowjetrepubliken, die aus wirtschaftlichen und nationalpolitischen Gründen ihr gelobtes Land ansteuern. Aber zunehmend auch Chinesen und Vietnamesen sowie Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten kommen nach Rußland, um dort zu leben. Angesichts einer sehr niedrigen Geburtenrate (eine russische Durchschnittsfrau bekommt 1,3 Kinder) sind diese Einwanderer zu einer wichtigen Quelle des Bevölkerungswachstums geworden. Die russische Gesellschaft vor der Duma- und vier Monate vor der Präsidentschaftswahl gibt kein einheitliches Bild ab. Wie die Wahlen am 7. Dezember ausgehen, weiß keiner. Aber vieles deutet darauf hin, daß Putins Partei und die KP weiterhin die eindeutig dominierenden Kräfte bleiben werden.