Alberto zählt knapp 19 Jahre; er ist groß, schlaksig, und mit seinem pechschwarzen Wuschel-kopf und den lebhaften dunklen Augen sieht er aus wie der nette Junge von nebenan. Blickt man etwas genauer hin, so fällt der strenge Zug auf, der sich um die Lippen gelegt hat. Er korrigiert das Bild, das man sich eben noch von Alberto gemacht hat. Jetzt erscheint er plötzlich als zu früh gereift, als jemand, der für sein Alter schon viel erlebt hat, vielleicht zuviel. Alberto hat Angst. Man sieht es an seinen Händen, die etwas zittern. Die Furcht ist nicht unbegründet, denn Alberto steht vor Gericht, nicht vor einem normalen Gericht, sondern vor einem juicio rápido, einem Schnellgericht, das die spanische Regierung eingerichtet hat, um der ins Kraut schießenden Kriminalität Herr zu werden. Die Anklage lautet auf Raub und Drogenmißbrauch. Den weiteren Verlauf der Verhandlung schildert die Tageszeitung El Mundo mit folgenden lapidaren Worten: „Der Richter findet nichts Strafmilderndes. Schuldig des Raubes im Wiederholungsfall. Gefängnis.“ So wie Alberto geht es augenblicklich manchen Straftätern, die von der Polizei auf frischer Tat ertappt und vor ein Schnellgericht gestellt wurden. Damit hat der spanische Staat hinsichtlich der eskalierenden Gewalt im Land buchstäblich die Notbremse gezogen, und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung verfolgt die härtere Gangart gegenüber den Gesetzesbrechern mit offener Sympathie. So wie sich in den letzten Jahren die Gewalt entwickelt hatte, konnte es unmöglich weitergehen – allein in Madrid kommt es alle sieben Minuten zu einem Raubüberfall, die Zahl der Wohnungseinbrüche ist sprunghaft gestiegen, und die offen zur Schau getragene Prostitution in der Innenstadt selbst am hellichten Tag ist vielen Madrilenen ein Dorn im Auge. Seit Beginn dieses Jahres wurden allein in der Hauptstadt 55 Menschen umgebracht, für europäische Verhältnisse ein Rekord. Aber Madrid steht hinsichtlich der Verbrechensstatistik nicht einmal an der Spitze. Auf den Balearen und den Kanarischen Inseln, die jedes Jahr auch von zahlreichen Deutschen besucht werden, ist die Zahl der Handtaschendiebstähle und der gewaltsamen Übergriffe buchstäblich explodiert. In den ersten Monaten des vergangenen Jahres stieg sie auf Mallorca um 50 Prozent, eine Entwicklung, die sich fortgesetzt hat. Im Gegensatz zu den deutschen Sozialdemokraten sind die spanischen Genossen keinesfalls zimperlich, wenn es um die Bekämpfung der Kriminalität geht. So forderte erst vor wenigen Tagen die Vorsitzende der Madrider Sozialisten (PSOE/Partido Socialista Obrero Español), Trinidad Jiménez, eine außerordentliche Versammlung des Stadtrats mit dem Ziel, endlich wirksame Konzepte zur Verbrechensbekämpfung zu entwickeln. Die Politikerin klagte ihre konservativen Stadtratskollegen an, das Problem der fehlenden Sicherheit zu ignorieren: „Der frisch gewählte Bürgermeister Alberto Ruiz-Gallardón spricht lieber über Gehälter, Sitzungsprotokolle und die künftige politische Karriere des amtierenden Regierungschefs Aznar als über die Probleme der Bürger.“ Im gleichen Atemzug forderte „Trini“, wie die Politikerin von den Madrilenen genannt wird, die zusätzliche Einstellung von 800 Ordnungshütern bei der Policia Municipal und von 2.000 neuen Beamten bei der Policia Nacional allein für die Hauptstadt. Die nun vor sechs Wochen von José María Aznars bürgerlicher Regierung eingesetzten Schnellgerichte sollen zweierlei erreichen – zum einen, daß die konservative Volkspartei (PP/Partido Popular) auf dem innenpolitischen Sektor verlorengegangenes Terrain zurückgewinnt; zum anderen versucht man tatsächlich, mit der Eindämmung der kriminellen Springflut Ernst zu machen. Die juicios rápidos kümmern sich um kleinere Straftaten wie Diebstahl oder Nötigung bis hin zu schweren Delikten wie Raub oder anderen Verbrechen, die mit Strafen bis zu fünf Jahren geahndet werden können. Im Einzelfall funktioniert das so: Nach seiner Festnahme verbringt der Täter in der Regel die Nacht in einem Polizeigefängnis. Am nächsten Tag wird er vor eines der im ganzen Land eingerichteten Schnellgerichte gestellt. Der Staatsanwalt hält sein Plädoyer und fordert ein bestimmtes Strafmaß. Wenn der Angeklagte es akzeptiert, ist der Richter verpflichtet, die vom Staatsanwalt beantragte Strafe um ein Drittel zu reduzieren. Damit ist der Fall zu Ende. Eine Berufungsmöglichkeit ist ausgeschlossen. Lehnt der Angeklagte jedoch die geforderte Strafe ab, so kommt es vor einem anderen Gericht abermals zur Verhandlung, die innerhalb von zwei Wochen mit einem Urteil abgeschlossen werden muß. In diesem Fall ist der Richter frei, das Strafmaß selbst zu bestimmen. Vier Wochen nach der Einführung der Schnellgerichte wurde vergangenen Monat eine erste Bilanz gezogen. In Madrid ging die Justiz von 40 Gerichtsverhandlungen pro Tag aus, eine Zahl, die sich im öffentlichen Bewußtsein einprägen und dem Mann auf der Straße das Gefühl von durchsetzbarem Recht und mehr Sicherheit vermitteln sollte. Doch die Richter schafften nur 15. Die führende linksliberale Tageszeitung El País kommentierte deshalb schadenfroh: „Der Erfolg der Schnellgerichte in der Hauptstadt ist wenig schmeichelhaft und weit entfernt von dem, was der Justizminister angekündigt hat.“ Die Gründe für die Anfangsschwierigkeiten der juicios rápidos sind vielfältig; zum einen funktionierte die Software der Polizeicomputer nicht richtig, so daß von 355 Anzeigen, die in schweren Fällen von der Polizei erhoben wurden, lediglich 200 bei den Schnellgerichten ankamen. Hinzu kam, daß an den Wochenenden in den Gerichtsbüros keine Briefe verschickt werden, was immer wieder zu Verzögerungen bei den ohnehin sehr knapp bemessenen Fristen führt. Ein weiterer Grund für die geringe Zahl an Verurteilungen besteht darin, daß die Polizei bei der Einordnung der Gesetzesübertretungen sehr lax verfährt. So mußten 155 Anzeigen zurückgezogen werden, die von den Ordnungshütern als Straftaten angesehen wurden, sich aber dann als einfache Übertretungen erwiesen, die ein anderes juristisches Verfahren notwendig machten. Dennoch geben sich die offiziellen Stellen optimistisch. „Es ist richtig, daß augenblicklich weniger Verfahren auf den Weg gebracht werden als ursprünglich vorgesehen, aber man darf nicht vergessen, daß wir erst am Anfang dieser Neuerung stehen und daß die weitere Tendenz nach oben weist“, erklärte ein Sprecher des Justizministeriums. In Teilen der Bevölkerung ist die Reform nicht unumstritten. Eine Reihe von Organisationen vor allem aus dem sozialen Bereich befürchtet, daß die Eile, mit der die Urteile gefällt werden, auf Kosten der Angeklagten geht. So betonte Pepe Sánchez, Präsident der andalusischen Föderation der Drogenabhängigen: „Bislang konnten wir darauf hoffen, daß straffällig gewordene Süchtige dank einer gewissenhaft vorbereiteten Verteidigung verständnisvoll behandelt wurden. Es wurde vor Gericht nach alternativen Heilprogrammen gesucht, nach therapeutischen und psychologischen Unterstützungsmaßnahmen mit dem Ziel, daß der Angeklagte von der Droge loskommt. Das aber setzt Gerichte voraus, die sich mit ihrem Urteil Zeit lassen. Vor Schnellgerichten landen süchtige Täter sehr schnell im Gefängnis.“ Bemerkenswert ist allerdings, daß 84 Prozent der bislang von Schnellgerichten verurteilten Straftäter das geforderte Strafmaß des Staatsanwaltes akzeptiert haben, eine für Beobachter ungewöhnlich hohe Zahl. Liegt das tatsächlich daran, daß die „Turbo-Gerichte“, wie sie in Spanien immer wieder genannt werden, die Angeklagten buchstäblich „überfahren“? Oder verhält es sich so, daß die Einsichtsfähigkeit des Täters unmittelbar nach der Tat noch größer ist und die geforderte Strafe als weitgehend gerecht empfunden wird, während ein Jahr später, nachdem die Tat längst verblaßt ist, man sich mit allen verfügbaren Mitteln gegen eine drohende Strafe wehrt? Unterdessen hat ein Vertreter des Madrider Richterrates, José Luis González Armengol, vorgeschlagen, die Schnellgerichte nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Zivilrecht einzusetzen. Sie könnten bei Auseinandersetzungen wie beispielsweise bei Zwangsräumungen, Eintreibung fälliger Schulden und dergleichen tätig werden, wenn der Streitwert 30.000 Euros nicht übersteigt. Die juicios rápidos könnten so dazu beitragen, daß die ohnehin völlig überlasteten Zivilgerichte nicht endgültig kollabieren.