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Blair versucht den Spieß umzudrehen

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An der Hitzewelle, die auch England und Wales in diesem Sommer heimsuchte und zeitweise eine dicke Smog-Glocke über London legte, war der dortigen Presse zufolge Wladimir Putin schuld, weil er das Kyoto-Protokoll noch nicht unterzeichnet hat, an der Flaute auf dem Agrarmarkt Jennifer Aniston: Die Hollywood-Schauspielerin machte in britischen Frauenzeitschriften die kohlenhydratarme Atkins-Diät populär. Für die Traumfigur jener Frau, der es gelang, Brad Pitt zu erobern, verzichten viele Verbraucher von Torquay bis Inverness auf Toastbrot, Fish’n’Chips und Yorkshire-Pudding. Weitaus schwieriger gestaltet sich die Entscheidung, wer die Schuld am Selbstmord des Regierungsbeamten und ehemaligen UN-Biowaffeninspekteurs David Kelly trägt: die politischen Verantwortungsträger, deren Verdrehung von Fakten zu Propagandazwecken ihn in Gewissenskonflikte gestürzt hatte? Die BBC und vor allem ihr Reporter Andrew Gilligan, der Kellys Bedenken aus Sensationsgier aufbauschte? Der Pressestab der Regierung, der eine regelrechte Hetzjagd auf Gilligans Informanten veranstaltete? Kellys Vorgesetzte im Verteidigungsministerium, die ihn auslieferten, indem sie seine Rolle publik machten? Kelly war am 18. Juli in einem Waldgelände in der Nähe seines Hauses bei Oxford mit aufgeschnittener Pulsader aufgefunden worden. Noch am selben Tag kündigte Premierminister Tony Blair die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission unter Leitung des nordirischen Lord Hutton an, die am 11. August im Saal 73 der Londoner Royal Courts of Justice ihre Arbeit aufnahm ( www.the-hutton-inquiry.org.uk ). Am 15. Juli, zwei Tage vor seinem Tod, mußte Kelly vor dem Parlamentsausschuß aussagen, der sich mit Gilligans Vorwurf befaßte, die Labour-Regierung hätte Geheimdienstinformationen über Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen propagandistisch „aufgepeppt“, um den Angriff auf den Irak zu rechtfertigen (JF 30/03). In seiner Radiosendung „Today“ am 29. Mai hatte sich Gilligan auf einen „hochrangigen Regierungsbeamten“ als Gewährsmann für seine Enthüllungen berufen, die vor allem Blairs Pressechef Alastair Campbell bezichtigten, Fakten verfälscht zu haben. Der Mikrobiologe Kelly, der während des Golfkriegsembargos 37mal im Auftrag der UN den Irak bereiste, wirkte damals irritiert ob der laienhaften Fragen, die ihm zu seiner Arbeit gestellt wurden: ganz der Wissenschaftler, der sich zu seinem Unwillen in politische Skandale verstrickt sieht. In seiner Aussage wiederholte er, was er am 30. Juni in einem Brief an seinen unmittelbaren Vorgesetzten Bryan Wells, den Leiter der Abteilung Gegenproliferation und Rüstungskontrolle im Verteidigungsministerium, gestanden hatte: daß es ein privates Treffen mit Gilligan gegeben habe, bei dem Kelly gesagt habe, die Behauptung, der Irak könne innerhalb von 45 Minuten Massenvernichtungswaffen einsatzbereit machen, sei „der Wirkung wegen“ in das fragliche Geheimdienstdossier aufgenommen worden. In diesem Zusammenhang sei „nebenbei“ der Name Campbell gefallen. Richard Hatfield, Personalchef des Verteidigungsministeriums, hatte Kelly am 4. Juli „außerordentliche Naivität“ vorgeworfen: „Journalisten bemühen sich nicht aus akademischem Interesse um Informationen, sondern um Geschichten zu konstruieren.“ Der Hutton-Kommission sagte Hatfield letzte Woche: „Der Disziplinarkodex des Verteidigungsministeriums macht sehr deutlich, daß unser Verhalten im Umgang mit den Medien von der Notwendigkeit bestimmt ist, gegenüber den Ministern der jeweiligen Regierung ein gewisses Vertrauen zu wahren.“ Dieses „Vertrauen“ habe Kelly bei seinem Kontakt zu Gilligan gebrochen und sei mehrfach dafür gerügt worden. Von Disziplinarmaßnahmen gegen ihn wurde jedoch abgesehen. Auch Gilligan bekam Ärger mit seinen Vorgesetzten, wie sich während der ersten Sitzungswoche der Kommission erwies: In seiner ursprünglichen – frei gesprochenen – Reportage hieß es, die Angaben im Geheimdienstdossier seien laut seiner Quelle „falsch“ gewesen, in einem später verfaßten Skript war nur noch von einer „fragwürdigen“ Behauptung die Rede. Der zuständige Redakteur Kevin Marsh warf ihm in einer internen E-Post „losen Sprachgebrauch“ vor: Sein „starker investigativer Journalismus“ sei „durch fehlerhafte Berichterstattung beeinträchtigt“ worden. Klar ist schon jetzt: Mit Ruhm wird sich in dieser Affäre niemand mehr bekleckern. Als Sündenbock soll Verteidigungsminister Geoff Hoon zurücktreten, sobald die Kommission ihren Abschlußbericht vorgelegt hat, berichtete am 10. August der Sunday Express unter Berufung auf Regierungskreise. Hoon selbst hat dies inzwischen dementiert. Ob Blair sich nach dem Vorbild des legendären Lügenbarons Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, wird sich frühestens im Laufe der nächsten Woche erweisen, wenn der Regierungschef aus dem Urlaub zurückkehrt, um der Untersuchungskommission Rede und Antwort zu stehen. Momentan sind laut einer Umfrage im Auftrag der Zeitung Mail on Sunday 47 Prozent der Wähler der Meinung, man könne Blair „kein Wort glauben“. 37 Prozent befürworten seinen Rücktritt.

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