Gerade in Berlin erscheint es fast unmöglich, nicht in jeder Straße auf Zeugnisse der Vergangenheit in Denkmalform zu stoßen. Doch ist die einst geteilte Stadt weltweit bekannt durch die Mauer. So fragen Touristen oftmals nach, wo sie eigentlich gestanden habe. 43 Jahre nach der Errichtung und fast 15 Jahre nach dem Fall haben selbst viele Einheimische ihre Not, da auszuhelfen – es steht fast nichts mehr! Bis auf wenige Wachtürme und einige Mauerreste im Grünen ist der einstige Schreckensstreifen völlig verschwunden. Beispiel Bernauer Straße, wo 1961 zahlreiche Flüchtlinge beim Sprung aus dem Fenster ums Leben kamen. Heute stehen noch wenige beschämende Meter der Mauer nebst Todesstreifen und Postenweg. Eingerahmt von zwei sechs meter hohen Wänden aus Edelstahl sieht der Betrachter lediglich eine hohe Mauer mit runder Asbestkrone, die auch auf jedem Hinterhof stehen könnte. Die Todeszone – jenen Bereich, der schärfstens von Posten und Hunden bewacht wurde, stets taghell erleuchtet war – kann man nur durch einen Spalt auf der östlichen Seite wahrnehmen. Zwar errichtete man 20 Meter entfernt 1999 das „Dokumentationszentrum Berliner Mauer“ (das eine viel zu nüchterne Ausstellung beherbergt), aber erst seit letztem Jahr ist von einer Plattform aus ein Gesamtüberblick möglich. Ein guter Ort, um Besucher nach ihren Kenntnissen und Eindrücken zu fragen – dachten wir. Die Ergebnisse waren teils erschreckend: Touristen aus der ganzen westlichen Welt sind mitunter besser informiert als junge Deutsche. Am besten hat uns ein etwa 20jähriger Brandenburger gefallen, der sich leider nicht fotografieren lassen wollte und seinen Namen nicht nannte. Der Grund: Er wußte rein gar nichts, kannte Ulbricht nicht, wußte nicht, wann die Mauer gefallen ist. Pisa total. Gus und Christy Robertson, zwei Rucksacktouristen aus dem fernen Australien, waren da schon informierter. Für sie war der Mauerbau „eine echte Tragödie, ein Desaster“. Auch daß der Westen nichts getan habe, sei ihnen in Erinnerung geblieben. Aber beide waren „fasziniert davon, daß sich alles zum Guten gewendet hat“. Eine 62jährige Rheinländerin betrat die Plattform des Dokumentationszentrum in fünfzehn Metern Höhe, das von unten etwas an die Zufahrt eines Parkhauses erinnert. Nach ihren Eindrücken gefragt, gestand sie, daß sie „am ganzen Körper“ frieren würde – bei mehr als 30 Grad Außentemperatur muß dieser Mauerstreifen sie also ziemlich beeindruckt haben. Von oben gewinnt man als Betrachter jedoch eher den Eindruck, daß dies dort unten (wenn man den Originalzustand vergleicht) eine Liegewiese mit Straßenanbindung und Beleuchtung sein könnte. Auf der Treppe begegnen wir einer Hamburger Mutter mit ihren beiden Töchtern. Die 21jährige Henrikje Reich macht gerade ihr Abitur in Berlin, weiß aber trotz ihres Leistungskurses Geschichte nicht so richtig, wer damals eigentlich die Verantwortung für den Bau der Mauer trug. Das habe man im Unterricht als Thema „nur mal so gestreift“. Ihre Mutter half aus: „Das kommt darauf an, wie man das politisch interpretiert. Das wurde ja auch antifaschistischer Schutzwall genannt. Das hing damals alles mit dem Ost-West-Konflikt zusammen, mit dem Kalten Krieg und der Abgrenzung. Die DDR ist ja vom Westen nie anerkannt worden.“ Bernd Lehmann aus Hamburg und Katrin Gall aus Sachsen-Anhalt wurden anscheinend etwas überrascht. Zwar wußten beide, daß 1961 die Grenze dichtgemacht wurde – wer dies zu verantworten hatte, da hatten sie „keine Ahnung“. Katrin erinnerte sich jedoch noch gut an den Mauerfall: „Ich war damals 17 und habe die erstbeste Gelegenheit genutzt, einmal in den Westen zu reisen.“ Der Frankokanadier Nicolas Dion konnte da schon brillieren. Natürlich wisse er, wann die Mauer errichtet wurde und wann sie fiel. Schließlich stehe das ja wohl übergroß unten im Eingangsbereich – wenn man dies nicht ohnehin schon wisse. Unsere Entgegnung, daß er da schlauer sei als so mancher deutscher Jugendlicher, stößt auf Verwunderung. „Was wissen die denn nicht?“, so seine Frage. „Zum Beispiel, wer für ihren Bau sorgte“, unsere Antwort, worauf er wie aus der Pistole geschossen antwortete: „Die ostdeutschen Kommunisten. Weil im Zuge des Ost-West-Konflikts immer mehr Menschen in den Westen geflohen sind.“ Patrick Weise (14) stand mit seinem Vater Karsten direkt daneben und hatte dieselbe Erklärung: „Die Ossis wollten in den Westen. Durften aber nicht.“ Das Nachhaken schien dann dem Vater etwas peinlich zu werden. Daß Sohnemann Honecker für den Erbauer hielt, hätte man ja noch gelten lassen können. Aber die Anwort, wer denn für den Fall sorgte, war peinlich: „Hatte da nicht Brandt was mit zu tun?“ Kein Wunder, denn in der Schule lerne man kaum etwas darüber, sagte der Vater schon etwas beschämt. Den endgültigen Beweis, daß Deutschland völlig in der Spaßgesellschaft angelangt ist, erhielten wir jedoch von drei Schülerinnen eines Gymnasiums im Odenwald. Jasmin, Tina und Julia (alle 18 Jahre) hatten überhaupt keinen Schimmer, wer die Mauer baute, und fragten gleich nach, ob sie jetzt in der Sendung von Stefan Raab angekommen seien. Da mußten sie enttäuscht werden. Wenigstens hatten sie in der Schule anscheinend mitbekommen, wer für den Fall haftbar gemacht wurde: „Ich kenn‘ nur den Honecker. Aber ich weiß, daß die Mauer nur deshalb aufging, weil sich da jemand versprochen hat …“ Ein paar Computerspielchen weniger, und es wäre vielleicht der Name Günter Schabowski hängengeblieben. Wenigstens wußten alle drei, daß man sich gerade auf der Westseite befand. Woran man dies erkannt habe? „Der Fernsehturm steht doch da – und da war Osten, oder?“ Keine fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer weiß fast niemand mehr etwas über die politisch Verantwortlichen. Walter Ulbricht und Egon Krenz scheinen schon im Mittelalter stattgefunden zu haben. Lesen Sie hierzu auch die Seite 12 Patrick, 14, aus Hamburg: „Die Ossis wollten in den Westen.“ Christy, 23, aus Australien: „Es war ein Desaster.“ Nicolas, 28, aus Kanada: „Die Kommunisten waren es.“ Henrikje, 21, aus Berlin: „Wird als Thema nur gestreift.“ Katrin, 33, aus Magdeburg: „Beim Fall war ich 17 Jahre.“
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