Wenn die Filmkamera läuft, steht der Schalter für moralischen Anstand in der Regel auf Aus. Wir haben uns an die Darstellung sexueller Handlungen gewöhnt, die mitunter nur haarscharf an der Grenze zur Pornographie vorbeischrammen. Der bekannte Hollywood-Produzent Harvey Weinstein konnte offenbar zwischen fallenden Hüllen im Film und fallenden Hüllen in der Realität nicht so genau unterscheiden. Wie sich in einem schmerzlichen Prozeß herausstellte, fand der Gründer der Produktionsfirmen Miramax und Weinstein Company es normal, sich in Gegenwart von Frauen zu entblößen und erwartete selbiges in den so entstehenden intimen Momenten auch von ihnen. Am Ende flog Weinsteins verwerfliches Treiben auf. Es war die Initialzündung für die weltweite „#Metoo“-Bewegung.
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Die deutsche Schauspielerin Maria Schrader, bekannt geworden durch ihre Hauptrollen in den Doris-Dörrie-Filmen „Keiner liebt mich“ (1994) und „Bin ich schön?“ (1998), hat sich der heißen Geschichte angenommen und wandelt in ihrem packenden Politdrama „She Said“ ein bißchen zu erkennbar auf den Spuren der legendären Watergate-Rekonstruktion „Die Unbestechlichen“ (1976) mit Robert Redford und Dustin Hoffmann.
Das ist einerseits ein wenig schade, weil man viele Szenen des Films so ähnlich schon mal gesehen zu haben meint und auch gleich weiß, wo. Andererseits ist Schrader damit natürlich auf der sicheren Seite: Denn warum sollte das, was in den Siebzigern Redford und Hoffmann so famos gelang, fast fünfzig Jahre später nicht auch ihren weiblichen Pendants Carey Mulligan und Zoe Kazan möglich sein? Auch sie stochern als Helden einer Enthüllungsgeschichte so lange im Unrat überheblicher Übeltäter herum, bis die Wahrheit dem beharrlichen Widerstand bezahlter Verdunkelungsexperten zum Trotz schließlich doch ans Licht kommt.
Drehbuch läßt Donald Trump toben
Die Exposition des Films widmet sich unter anderem den sexuellen Übergriffen, die dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump zur Last gelegt wurden. Damit ist auch von vornherein klar, wo die Protagonistinnen, die New York Times-Reporterinnen Megan Twohey (Mulligan) und Jodi Kantor (Kazan) im politischen Spektrum zu verorten sind. Das Drehbuch läßt Trump am Telefon toben: „Wenn Sie das veröffentlichen, werde ich klagen.“ Und: „Sie sind widerlich!“ Es klingt in der Tat sehr nach dem Republikaner.
Die allererste Szene von „She Said“ jedoch spielt nicht 2016 in New York, sondern 1992 in Irland. Dort sieht man, ohne zu diesem Zeitpunkt wissen zu können, worum es geht, die junge Filmassistentin Zelda Perkins (Molly Windsor) erst bei der Arbeit – es wird gerade ein Historiendrama gedreht – und später mit Panik im Gesicht auf der Straße. Erst im Verlauf der weiteren Handlung wird ihre Rolle bei der Aufdeckung des Weinstein-Skandals klar: Sie ist eine Schlüsselzeugin.
Ins Rollen gekommen ist der Fall Weinstein damals durch die beiden Schauspielerinnen Rose McGowan und Ashley Judd. Letztere spielt sich im Film selbst. Daß sie nur die Spitze eines Eisbergs sind, war zunächst nicht abzusehen.
Indeed, accountability is at the very heart of the #MeToo movement. We hold any and every abuser accountable, regardless of their gender, race, socioeconomic status, public visibility or popularity. Sexual violence is wrong, full stop. https://t.co/SEjAtgtqlT
— ashley judd (@AshleyJudd) August 22, 2018
Als die beiden Times-Reporterinnen dem schweren Verdacht nachgehen, der auf dem exhibitionistischen Miramax-Geschäftsführer lastet, stoßen sie zunächst auf eine Mauer des Schweigens. Sie recherchieren an verschiedenen Fronten und finden schließlich heraus, daß es zu knapp einem Dutzend vertraglicher Arrangements zwischen Weinstein und Schauspielerinnen kam.
Weinstein ist im Film kaum zu sehen
Im Klartext: Die Belästigten kassierten hohe Entschädigungssummen und verpflichteten sich damit, über die finanziell geregelte Sache nie wieder ein Sterbenswort zu verlieren. Twohey und Kantor kommen einem „System“ auf die Spur, „das Mißbrauch schützt“, so die bittere Bilanz der Frauen. Dieses System ist der Grund für die beträchtlichen Widerstände, denen sie auf der Suche nach der Wahrheit zu trotzen haben. Als sie schließlich in England auf Zelda Perkins (gespielt von Samantha Morton) stoßen, zieht sich die Schlinge um Weinsteins Hals schließlich zu.
Damit teilt der Beschuldigte, der in dem Film von Maria Schrader kaum zu sehen ist, das Schicksal von Alexandre Farel in „Menschliche Dinge“ von Yvan Attal. Genau wie seine Kollegin Maria Schrader ist der Franzose Attal als Schauspieler bekannt geworden, ehe er erfolgreich auf den Regiestuhl wechselte. Seinen „#Metoo-Film“ zeichnet mehr als „She Said“ (wo das obsolet war) das unbedingte Bemühen um eine unparteiische Darstellung aus. Das Urteil liegt am Ende allein beim Zuschauer.
Minutiös rekonstruiert Attal die Ereignisse rund um einen mutmaßlichen Mißbrauchsfall aus dem Jahr 2015, der als „Fall Stanford“ bekannt wurde: In einem aufsehenerregenden Prozeß wurde der 19jährige Brock Turner, Student und Schwimm-As der Universität Stanford, des sexuellen Mißbrauchs einer durch Betäubungsmittel gefügig gemachten jungen Frau für schuldig befunden. Attal fiktionalisierte die Geschichte und verlegte sie nach Frankreich. Alexandre Farel (Ben Attal) geht mit Mila Wizman (Suzanne Jouannet), der Tochter des Freundes seiner Mutter, auf eine Party. Kurz darauf beschuldigt die 17jährige ihn der Vergewaltigung. Die beiden Eltern fallen aus allen Wolken. In eigenen Kapiteln erzählt das Filmdrama den Kriminalfall zunächst aus der Sicht von Alexandre, danach aus der von Mila.
In kleinen Details, die später vor Gericht entscheidend sein werden, weichen die Darstellungen voneinander ab. Das dritte Kapitel zeigt den Prozeß. Und hier wird rasch klar, daß eigentlich noch jemand anders auf der Anklagebank sitzt: die hedonistische Leitkultur des Westens. Die Vorwürfe gegen die unsichtbare Beklagte gipfeln in den Ausführungen von Alexandres Vater Jean (Pierre Arditi) zur gängigen Sexualmoral: „Sex ist was Leichtes, ohne Konsequenzen“, eine Aussage, die zuvor ausgerechnet Klägerin Mila beglaubigt hat. In einer Szene mit ihrer religiösen Mutter verteidigte sie ihren Lebenswandel mit den Worten: „Wir sind im Jahr 2021. Wenn zwei Menschen sich mögen, haben sie Sex.“
Attals Film ist analytischer als Schraders
Durch das Verfahren kommt auch ans Licht, daß Alexandre eine Schwäche für pornographische Literatur hat. Und um seinen facettenreichen Diskursbeitrag noch um eine Komponente zu bereichern, zeigt der Regisseur in einer Nebenhandlung, wie eine hübsche Blondine sich von Jean, einem bekannten Fernsehmoderator, schwängern läßt.
In Frankreich gab es mit Catherine Deneuve eine prominente „#Metoo“-Kritikerin. Vielleicht liegt es daran, daß Attals Blick auf die Materie tiefer, analytischer ist als der von Schrader, für die die Frage von Schuld oder Unschuld von vornherein geklärt ist. Sie konzentriert sich auf die präzise Wiedergabe der journalistischen Faktenfinderei. Verlassen konnte sich die gebürtige Hannoveranerin dabei vor allem auf das brillante Skript von Rebecca Lenkiewicz, das auf dem Buch „She Said“ von Jodi Kantor und Megan Twohey, den realen Vorbildern für die Filmheldinnen, basiert. Und natürlich auf ihr hochkarätiges Hollywood-Ensemble, das sie erkennbar gut im Griff hatte.
Carrey Mulligan, die schon in „Promising Young Woman“ effektvoll mit der Männerwelt abrechnete, und Zoe Kazan gehen dermaßen in ihren Rollen als Investigativ-Reporterinnen auf, daß man kaum glauben möchte, daß alles nur gespielt ist. Geschickt macht Schrader die Mutterrollen ihrer Heldinnen – Mulligan ist zu Beginn von „She Said“ hochschwanger – zu einem Subthema des Films: Die gutbezahlten Journalistinnen haben – auch das ist Teil der Botschaft – brave Ehegatten, die voll in ihren postmodernen Männerrollen aufgehen und so ihren Frauen den Rücken für die superwichtige Aufklärungsarbeit freihalten.
Es fehlt die kritische Einordnung
Was dem Film wegen seiner feministischen Grundausrichtung erwartungsgemäß fehlt, ist eine kritische Einbettung in größere gesellschaftspolitische Denkzusammenhänge. Das Medium Film als einer der treibenden Faktoren für die pathogene Sexualisierung und Pornographisierung der Gesellschaft spielt hier, anders als in „Menschliche Dinge“, keine Rolle.
Und natürlich sagt es auch einiges über die politische Vielfalt in unserer Kulturindustrie aus, daß sich Schraders Film mit seiner Breitseite gegen Donald Trump zu Beginn nicht lange um einen deutschen Verleih sorgen mußte, während das Politdrama „My Son Hunter“ über die Machenschaften von Joe Bidens Sohn, welches eher republikanische Sichtweisen vertritt, natürlich nie im deutschen Kino zu sehen sein wird.