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„Mutter Ostpreußen“: Die Wiederbelebung der Agnes Miegel

„Mutter Ostpreußen“: Die Wiederbelebung der Agnes Miegel

„Mutter Ostpreußen“: Die Wiederbelebung der Agnes Miegel

Zwei Fotos der Schriftstellerin Agnes Miegel hängen am Mittwoch (16.03.2011) in Bad Nenndorf in der Ausstellung im Agnes-Miegel-Haus. Wegen Miegels zweifelhafter Rolle in der Nazi-Zeit wurden nach der ostpreußischen Dichterin benannte Schulen und Straßen vielerorts bereits umgewidmet. Foto: Caroline Seidel dpa/lni (zu dpa/lni-Korr: "Nazi-Größe oder große Dichterin: Streit um Agnes Miegel" vom 24.03.2011) +++ dpa-Bildfunk +++
Zwei Fotos der Schriftstellerin Agnes Miegel hängen am Mittwoch (16.03.2011) in Bad Nenndorf in der Ausstellung im Agnes-Miegel-Haus. Wegen Miegels zweifelhafter Rolle in der Nazi-Zeit wurden nach der ostpreußischen Dichterin benannte Schulen und Straßen vielerorts bereits umgewidmet. Foto: Caroline Seidel dpa/lni (zu dpa/lni-Korr: "Nazi-Größe oder große Dichterin: Streit um Agnes Miegel" vom 24.03.2011) +++ dpa-Bildfunk +++
Zwei Fotos der Schriftstellerin Agnes Miegel: Die Dichterin war ein Kind ihrer stürmischen Zeit. Foto: picture alliance / dpa | Caroline Seidel
„Mutter Ostpreußen“
 

Die Wiederbelebung der Agnes Miegel

Von der „Mutter Ostpreußen“ zur vergessenen Modernen: Agnes Miegel wird Unrecht getan, wenn sie als NS-Hausliteratin dargestellt wird. Ein aktuelles Buch wirft ein neues Bild auf die Autorin.
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Rudolf Borchardt, einer der sprachmächtigsten Polemiker deutscher Zunge,  pflegte die arme Agnes Miegel als „Balladenbrüllerin“ zu verhöhnen. Doch selbst dieses Todesurteil aus der Feder einer so einschüchternden Autorität stieß die vielfach geehrte ostpreußische Sappho, Königsberger Ehrendoktorin, Kleist-, Herder- und Goethe-Preisträgerin, nicht aus der ersten Liga jener Autoren aus, deren Texte in der Zwischenkriegszeit in keinem Schullesebuch fehlen durften.

Das änderte sich erst, als „Mutter Ostpreußen“, die im Februar 1945 aus der von der Roten Armee eingeschlossenen „Festung Königsberg“ über die Ostsee nach Dänemark entkam, sich in den 1950ern im niedersächsischen Bad Nenndorf wieder als Schriftstellerin etablierte – bei gleichzeitiger Ausgrenzung aus dem linksliberal dominierten Literaturbetrieb der Adenauer-Republik.

Beachtung fand die 1964 verstorbene Autorin über ihren Tod hinaus daher allein noch im Reservat landsmannschaftlich organisierter Kulturarbeit sowie als Gegenstand einer diesbezüglich nicht sehr vitalen germanistischen Forschung. Deren Erträge schlagen sich in systemübergreifenden deutsch-deutschen Handbuchartikeln  nieder, die aber, im Unterschied zu Rudolf Borchardts Schmähungen, Miegels kräftige eindringliche Bildsprache loben und sie als inzwischen kanonisierte, Stoffe und Formen mühelos beherrschende „Meisterin der Ballade“ würdigen.

Angriff auf 700 Jahre deutsche Geschichte

Ihre sich langsam vollziehende Demontage – zum 100. Geburtstag 1979 gönnte ihr die Bundespost immerhin noch eine Sonderbriefmarke – fußte denn primär auch nicht auf ästhetischer Wertung des Werkes, sondern auf dessen weltanschaulich-politisch motivierter Verdammung. Die machte sich biographisch fest an Miegels Aufnahme in die zuvor nationalsozialistisch gesäuberte Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, an ihrer Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft und der NSDAP. Den Schwerpunkt der Anklage bildete jedoch die lyrische Huldigung „An den Führer“ von 1940. Ein schlechtes Gedicht, aber verglichen mit den „Großen Gesängen“ (Gerd Koenen, 1991) enthemmter kommunistischer Barden, etwa den sklavenseligen Stalin-Oden Stephan Hermlins oder Johannes R. Bechers („Stalin heißt das Glück der Welt“), literaturhistorisch betrachtet nur ein Vogelschiß.

Im Schlepptau dieses Poems entfalten sich seit vierzig Jahren die Assoziationsketten „antifaschistischer“ Lemuren. Damit soll die als NS-Dichterin abgestempelte Miegel als vom „Geist des Revanchismus“ erfüllte prominente literarische Repräsentantin der Ostprovinzen moralisch diskreditiert werden, um mit ihr 700 Jahre deutsche Geschichte jenseits von Oder und Neiße aus dem ohnehin schon zerbröselnden kollektiven Gedächtnis eines zur Selbstabschaffung entschlossenen Volkes zu streichen. Mit der bilderstürmischen Konsequenz etlicher Umbenennungen von Agnes-Miegel- in Nelly-Sachs- oder Anne-Frank-Straßen und der 2015 gegen den Mehrheitswillen eines Bürgerentscheids oktroyierten Entfernung des Miegel-Denkmals aus dem Nenndorfer Kurpark.

„Agnes Miegel ist eine modern Nervöse“

Sich gegen solche primitiven Klischees richtend, läutet der Kieler Anglist Werner T. Rix jetzt mit seiner Neuinterpretation des Gesamtwerks eine Zeitenwende in der Miegel-Forschung ein. Er stützt und systematisiert die schon in älteren Miegel-Monographien von Klaus D. Hoffmann (1969), Marianne Kopp (1988) und Anni Piorreck (1990) verfochtene These, daß ihr Œuvre sich nicht ins Prokrustesbett der „Heimatdichtung“ zwängen lasse, sondern weit darüber hinaus in weltliterarische Kontexte weise. Mithin klinge aus ihrer Dichtung nicht die rückwärtsgewandte Stimme der Vergangenheit, sondern der geistige Eigenständigkeit verratende Ton einer literarischen Vertreterin der Moderne.

Walter Rix: „Agnes Miegel – Wort und Mythos - Wege zum Verständnis des Werkes“ Jetzt im JF-Buchdienst bestellen
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Rix bestätigt damit den Befund eines zeitgenössischen Rezensenten über ihren Erstling „Gedichte“ (1901): „Agnes Miegel ist eine modern Nervöse.“ Sie thematisiere häufig verstörende Entfremdungserfahrungen und habe daher nichts zu tun mit der um 1900 aufblühenden, gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte harmonisierenden Heimatliteratur in der Manier Gustav Frenssens.

Ihre Lyrik spiegelte die stürmische Zeit wieder

Vielmehr zolle ihre frühe Lyrik dem wilhelminischen „Nervendiskurs“ (Peter Sprengel) reichlich Tribut, der sich im Zuge der Transformation einer Agrar- in eine Industriegesellschaft aus der Erschütterung überkommener weltanschaulicher Gewißheiten und Autoritäten entwickelte, aus der Infragestellung aller Wirklichkeitsbezüge mitsamt der Kategorien von Zeit und Raum und nicht zuletzt aus der von Rix exponierten „Sprachkrise“, wie sie Hugo von Hofmannsthal im fiktiven Brief des Lord Chandos 1902 formulierte, worin er bekennt, die Fähigkeit verloren zu haben, „über irgend etwas zusammenhängend zu denken und zu sprechen“, so daß ihm abstrakte Worte wie „modrige Pilze im Munde zerfielen“.

Verwandtes steckt in Miegels Ballade „Die Mär vom Ritter Manuel“ (1905), die mit alten Bildern in moderne Abgründe einer doppelten Wirklichkeit schaut – im Vorgriff auf die sich in den 1920ern auftürmende Welle der phantastischen, an die „Schwarze Romantik“ andockenden, in „schwankende Welten“ entführenden Literatur.

Früh haderte sie mit bürgerlichen Lebensformen

Henning Gans’ minutiöse, von Rix freilich ignorierte Rekonstruktion einer intimen Beziehung zu ihrem Förderer Börries von Münchhausen (Leipzig 2017) dokumentiert, daß die Königsberger höhere Tochter Agnes Miegel früh mit bürgerlichen Lebensformen haderte. Das erklärt wohl ihre Liaison mit Baron Münchhausen, die, wie Gans mit einem Indizienbeweis nahelegt, mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine Schwangerschaft und eine Abtreibung mündete. Mit der Konsequenz, daß sich Miegel fortan gleichgeschlechtlich orientierte, so daß eine lesbische Dichterin fürs Publikum eine scheinbar asexuelle „Mutter Ostpreußen“ verkörperte – mehr antibürgerliche Existenz ging nicht.

Insofern kaschierte ihr Gram, als Pflegerin ihres 1917 nach langer Krankheit verstorbenen Vaters ihm „das fürchterliche Opfer der Bürgerlichkeit“ gebracht zu haben, lediglich ihre während der unglücklichen Studienjahre als Lehrerin und Krankenschwester gefällte verwegene Entscheidung, sich in den „dunklen Strom der Kunst“ zu werfen und ihr Glück als „freie“ Schriftstellerin zu versuchen. Was ihr dann in der Weimarer Republik nur gelang, weil ihr der damals für eine ledige Frau immer noch ungewöhnliche Brotberuf einer Feuilletonistin bei der Ostpreußischen und bei der Königsberger Allgemeinen Zeitung materiellen Rückhalt gab. Ihrem in dieser Zeit zelebrierten „poetischen Journalismus“ widmet Rix ein Kapitel, das die erstaunliche Bandbreite von Miegels oft aus Ostpreußen hinausweisenden Themen belegt, denen nichts von provinzieller Enge anhaftet.

Ebensowenig fördert Rix’ Durchleuchtung der  nach 1920 von Lyrik auf Prosa umgestellten Produktion zutage, was von einer heute als reaktionäre Protagonistin der Gegenmoderne stigmatisierten Autorin zu erwarten gewesen wäre. So sucht man die üblichen Dichotomien konservativ-völkischer Frontstellungen, Kultur gegen Zivilisation, Stadt gegen Land, besseres Früher gegen schlechtes Heute, bei Miegel vergeblich, wie Rix in einem erhellenden Vergleich zwischen ihrer und Oswald Spenglers Reaktion auf Deutschlands Verstädterung demonstriert. Für den Geschichtsdenker ist dies ein Symptom der Vermassung und Fellachisierung, das vom „Untergang des Abendlandes“ kündet. Die vom Kulturpessimismus und Technikfeindschaft nicht angekränkelte Dichterin vertraut hingegen darauf, daß sich lebensreformerische Konzepte wie die  „Gartenstadt“ gegen die „auflösenden Mächte der Urbanität“ behaupten würden.

Miegels Naturverständnis weist sie als eine „Moderne“ aus

Gewiß, Agnes Miegel politisierte sich unter dem Eindruck des Versailler Diktats, das Ostpreußen durch den „polnischen Korridor“ vom Reich und das Memelgebiet vom nördlichen Ostpreußen trennte. Aber wie Rix anhand der Erzählung „Die Fahrt der sieben Ordensbrüder“ (1926) herausarbeitet, die den Clash of Cultures zwischen heidnischen Pruzzen und christlichen Rittern schildert, soll für sie das östliche Kolonialland ein Raum des Ausgleichs und der Toleranz zwischen den Völkern, Kulturen und Konfessionen sein. Jeglicher „Rassismus“ weicht darum dem Bemühen, den ostpreußischen Gründungsmythos von der christlich-heidnischen, deutsch-preußischen Symbiose zu festigen.

Trotz der breiten Blutspur und der schweren Verwüstungen, die zaristische Invasionsarmeen 1914/15 in Ostpreußen hinterließen, reihte sich Agnes Miegel nicht unter die vielen Intellektuellen und Künstler ein, die sich ab 1914 am publizistischen „Krieg der Geister“ gegen die Feinde der – von ihr übrigens nicht sonderlich geliebten – Hohenzollernmonarchie in Ost und West beteiligten. Ähnliche Zurückhaltung übte sie wieder ab 1939: Es existiert von ihr kein Text, der den Krieg gegen die Sowjetunion glorifiziert, keine Zeile, die für die Eroberung von „Lebensraum im Osten“ oder die Vernichtung des „Weltjudentums“ wirbt.

Auf Ausgleich ist auch das von Rix facettenreich interpretierte Naturverständnis Miegels angelegt. Die Verneinung des Natürlichen, den Ungeist rücksichtslos kapitalistischer Naturausbeutung, die Zerstörung des mythischen Naturraums lastet die im protestantischen Glauben ihrer mütterlicherseits salzburgischen Vorfahren erzogene Dichterin dem Christentum an, das sie durch Elemente ihrer pantheistischen Privatreligion korrigiert und ergänzt. Auch insoweit, als „Grüne“, ist Agnes Miegel also eine „Moderne“. „Deren literarische Bearbeitung der Opposition von Natur und Zivilisation, die uns heute bedrückt, uns in Zukunft noch mehr beschäftigen und vielleicht bedrohen wird“, da ist sich Rix sicher, „ihr Werk auch in die Zukunft tragen wird.“

Aus der JF-Ausgabe 16/25. 

Zwei Fotos der Schriftstellerin Agnes Miegel: Die Dichterin war ein Kind ihrer stürmischen Zeit. Foto: picture alliance / dpa | Caroline Seidel
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