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Buchrezension: Goethe auf der Anklagebank

Buchrezension: Goethe auf der Anklagebank

Buchrezension: Goethe auf der Anklagebank

Links ist der junge Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832) zu sehen, trägt zeittypische Tracht und einen Zopf, daneben ist die Menora in der Großen Synagoge von Budapest zu sehen
Links ist der junge Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832) zu sehen, trägt zeittypische Tracht und einen Zopf, daneben ist die Menora in der Großen Synagoge von Budapest zu sehen
Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832), eine Menora (Symbolbild) / Foto: picture alliance / Bildagentur-online | Sunny Celeste / picture alliance / SULUPRESS.DE | Marc Vorwerk/SULUPRESS.DE
Buchrezension
 

Goethe auf der Anklagebank

Der US-Literaturwissenschaftler W. Daniel Wilson erforscht Goethes Verhältnis zu den Juden – und glaubt, dem Autoren der Weimarer Klassik Antisemitismus nachweisen zu können. Warum das komplett daneben ist.
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Der Schriftsteller Ludwig Börne stellte seiner Rezension zu „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ Verse aus dessen Prometheus-Gedicht voran. „Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet je des Geängstigten?“ Das Zitat verriet die große Bitterkeit des Rezensenten.

Sie erklärte sich aus der Biographie Börnes, der 1786 als Juda Löb Baruch im Judenviertel von Frankfurt am Main geboren wurde. Es hatte ihn tief gekränkt, daß Johann Wolfgang von Goethe die Forderung der Frankfurter Juden nach Bürgerrechten zum Anlaß nahm, sich über „Humanitätssalbader“ zu mokieren.

Börnes Abneigung gegen Goethe ist weithin bekannt. Anders als Lessing oder Herder zeigte der Frankfurter Großbürgersohn an der Judenemanzipation wenig Interesse; eine Figur wie Lessings Nathan taucht in seinem Werk nicht auf.

Wilson will sich nicht mit der Weimarer Klassik abfinden

Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler W. Daniel Wilson, ein profunder Kenner der deutschen Klassik, sieht darin ein Defizit, dessen Bedeutung weit über die Literaturgeschichte hinausgeht. Goethe sei „die wichtigste identitätsstiftende Figur der deutschen Kultur, so daß seine Haltung zu einer der brisantesten Fragen unserer – und seiner Zeit – ins Herz des deutschen Selbstverständnisses dringt“.

Dieses sei von einem „Schuldabwehrantisemitismus“ bestimmt, der beispielhaft in Martin Walsers Frankfurter Friedenspreis-Rede 1998 zum Ausdruck gekommen sei, in der Walser sich gegen die „Dauerpräsentation unserer Schande“ verwahrt und sich auf Goethe bezogen hatte, der im reißenden Strom der Politik souverän der Dichtung und Naturwissenschaft nachgegangen sei. Wilson mag sich nicht damit abfinden, daß in Deutschland aus der „dunklen Flut politischer Verstrickung (noch) immer die schimmernde Insel der Weimarer Klassik empor(ragt)“.

Mit einer philologischen Fleißarbeit versucht er sie zu fluten. Nichts – oder fast nichts –, das Goethe geschrieben, gesagt oder das über ihn geschrieben oder gesagt wurde, ist seinem Späherblick entgangen. Seine These lautet: Goethe hat einerseits die Juden bewundert, weil sie sich durch die Stürme der Zeit als Volk erhalten hatten. Andererseits war er privatim ein Antisemit, der sich freilich hütete, dies nach außen bekanntzugeben.

Goethe schrieb über Schmutz und Elend des Ghetto

Wilson zitiert die Gerichtsakte eines Prozesses, in dem der junge Goethe einen Christen gegen einen Juden vertreten und mit der religiös bedingten höheren Glaubwürdigkeit seines Mandanten argumentiert hatte. Das Gericht aber gab dem Juden recht, wie überhaupt die Frankfurter „Gerichte unbeeindruckt von der Religionszugehörigkeit“ urteilten, „auch wenn Advokaten wie Goethe diese Waffe irrationalerweise einsetzten“. Nun, das Verfahren ist schäbig und wirft einen Schatten auf das idealisierte Goethe-Bild, aber es war weithin gebräuchlich und ist unter neuen Vorzeichen im Zuge der Identitätspolitik wieder stark in Mode gekommen.

In dem Memoirenwerk „Dichtung und Wahrheit“ habe er seine kindlichen Eindrücke von Schmutz, Enge und Elend im Judenviertel wiedergegeben, ohne sich mit den politischen und sozialen Umständen auseinanderzusetzen, kritisiert Wilson. An anderer Stelle vergleicht er Goethes Darstellung eines Juden mit dem „Blackfacing“ in den USA.

Ein weiteres verwerfliches Indiz ist sein Interesse für Schriften des in Jena lehrenden Philosophen Jakob Friedrich Fries, der als Judenfeind gilt. Die zitierten Textstellen von Fries könnten freilich auch Karl Marx’ Aufsatz „Zur Judenfrage“ entstammen. Ausgerechnet diese Publikation fehlt jedoch in Wilsons umfangreicher Bibliographie.

Wilson arbeitet mit Unterstellungen

Goethe duldete im Weimarer Theater keine judenfeindlichen Stücke, und seine Reserve war nicht ethnisch, sondern religiös begründet. Mit der Konversion hatte sich die jüdische Frage für ihn so gut wie erledigt.

Um seine Antisemitismus-These zu untermauern, arbeitet Wilson mit unzähligen Insinuationen wie: „So ist anzunehmen“, „wir können darüber hinaus fragen“, „es mag zutreffen“, „Goethe mag ähnlich geurteilt haben“ und so weiter. Manchmal stolpert er über die eigenen Füße.

So heißt es auf Seite 131: „Die Judenemanzipation in Frankfurt hat Goethe gewiß geärgert, doch sind Zeugnisse dazu nicht überliefert.“ Auf Seite 259 dagegen hält er Goethes „Ablehnung der jüdischen Emanzipationsbestrebungen in Frankfurt“ für erwiesen.

Goethes Spott über „Humanitätssalbader“ wird verständlich

Für den jungen Friedrich Engels bewegte Goethe sich zwischen den zwei Polen des Genies und des Weimarer Geheimrats, des Himmelsstürmers und des Philisters. Er habe „einer spießbürgerlichen Scheu vor allen gegenwärtigen, großen Geschichtsbewegungen sein stellenweise hervorbrechendes, richtiges ästhetisches Gefühl“ geopfert. Das klingt allemal lebensklüger als Wilsons Beckmesserei.

Wobei anzufügen wäre, daß die „großen Geschichtsbewegungen“ auch Kontrollverlust, Chaos und Exzesse bedeuteten, vor deren Hintergrund Goethes Spott über „Humanitätssalbader“ plausibel wird. Salbader sind frömmelnde Schwätzer, die Gutes wollen, aber Böses schaffen, indem sie ihren idealistischen Energien freien Lauf lassen.

Wilson greift nach Zeitgeistzipfel

Goethe verstand unter der Integration von Neubürgern kein tägliches Neuaushandeln des Zusammenlebens, sondern deren Einordnung in das Vorgefundene. Seine Bedenken hinsichtlich Juden wurden historisch widerlegt.

Er war ein Kind seiner Zeit, wie auch Wilson ein Kind seiner Zeit ist. Goethe konnte sich über sie erheben, in seinem Werk wurde Vergängliches zum Gleichnis. Wilson versucht den letzten Zipfel eines Zeitgeistes zu erhaschen, den der Sturm der aktuellen Postkolonialismus-Mode gerade hinwegbläst.

Aus der JF-Ausgabe 44/24.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832), eine Menora (Symbolbild) / Foto: picture alliance / Bildagentur-online | Sunny Celeste / picture alliance / SULUPRESS.DE | Marc Vorwerk/SULUPRESS.DE
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