„Gulag“ ist ein Wort, mit dem heute fast jeder etwas anfangen kann. Es handelt sich um die Abkürzung von „Glavnoe Upravlenije Lagerej“ und bedeutet übersetzt Lagerhauptverwaltung. Heute gilt es als Synonym für die Strafvollzugsmethoden des Sowjetkommunismus. Vor 50 Jahren begann der Siegeszug des Begriffs und des Enthüllungswerks, dem er seine prägende Wirkung verdankt: Alexander Solschenizyns „Der Archipel GULAG“ erschien, eine akribische Aufarbeitung des sowjetischen Straflagersystems und der darin begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das aufwendige Dokumentarwerk begründete den Ruhm des 1918 in Kislowodsk zur Welt gekommenen Autors und ist auch der entscheidende Grund für den Literaturnobelpreis, der dem eigentlich zum Mathematiker und Physiker Ausgebildeten 1970 zuerkannt wurde.
Mit „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ hatte er 1962 einen ersten Vorstoß in Richtung Lagerliteratur unternommen. Solschenizyn beschreibt in der Tradition des russischen Realismus einen Arbeitstag im Januar 1951 aus Sicht des „Häftlings S 854“ alias Schuchow, also den Alltag in Stalins Straflagern: Wecken um fünf Uhr morgens, danach Antreten vor den Baracken bei minus 27 Grad. „Die Erzählung ist wahrhaftig, hart und ernst“, schrieb der Kritiker Marschak.
Der Text wurde während der durch Sowjet-Machthaber Nikita Chruschtschow autorisierten Stalinismus-Aufarbeitung 1962 ganz regulär in der liberalen Literaturzeitschrift Nowyj Mir abgedruckt. Solschenizyn, der als Artillerieoffizier der Roten Armee 1945 am Ostpreußenfeldzug beteiligt war, hatte darin seine eigenen Leiden aufgearbeitet: Am 7. Juli 1945 war er zu acht Jahren Straflager und anschließender lebenslänglicher Verbannung verurteilt worden, weil er in einem privaten Brief Kritik an Stalin geäußert hatte. Nach dem Tod des Tyrannen dauerte es noch vier weitere Jahre, bis Solschenizyns Verbannung aufgehoben wurde. Bis 1957 hatte er überdies zwei Krebserkrankungen überstanden.
„Archipel GULAG“ macht abstraktes Grauen konkret
Bereits im April 1958, also vor der Veröffentlichung von „Iwan Denissowitsch“, hatte er mit der Arbeit an seinem Hauptwerk begonnen, einer akribischen Sammel- und Recherchearbeit, vergleichbar mit der Walter Kempowskis für sein ebenfalls mehrbändiges „Echolot“. Als „Versuch einer künstlerischen Bewältigung“ des Wahnsinns, der sich in den von den Bolschewisten bereits seit 1918 errichteten Straflagern ereignete, bezeichnete der Unbeugsame selbst das Mammutwerk, bestehend aus Dokumenten, Erinnerungen, Augenzeugenberichten, die er ergänzte um romanhaft verdichtete Erlebnisse aus der eigenen Lagerzeit und psychologisch präzise Porträts von Peinigern und Gepeinigten.
Anhand von exemplarischen Einzelfällen macht Solschenizyn das abstrakte Grauen zum konkreten Erlebnis. 227 briefliche oder persönliche Mitteilungen von anonym gebliebenen Betroffenen bilden zusammen mit den acht Jahren, die der Regimekritiker selbst im Lager verbrachte, das Rückgrat der Kompilation. Angeregt durch „Ein Tag des Iwan Denissowitsch“ hatten sich viele in der Hoffnung an ihn gewandt, dem selbst erfahrenen Leid eine Stimme zu geben. All denjenigen, „die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzählen“, ist das Buch gewidmet.
Teil 1, überschrieben mit „Die Gefängnisindustrie“, rekonstruiert die Entstehung des Lagersystems unter den siegreichen Bolschewisten und die verzweifelte Situation der oft hungernden Insassen: Nach dem Sieg der Roten in der Oktoberrevolution errichteten die dämonischen Drei, Lenin, Trotzki und Stalin, wie es praktisch jeder Gesellschaft widerfährt, die verbohrten Marxisten in die Hände fällt, ein brutales Ausgrenzungs- und Entrechtungsregime. Ideologisch begründete Vergehen wie „reaktionäre“ Gesinnung, „konterrevolutionäres“ Verhalten, die falsche Klassen-, Volks- oder Religionszugehörigkeit generierten ein Heer neuartiger Delinquenten. Eine Korrektur- und Bestrafungsindustrie entstand, deren grausige Ausgeburt die Arbeitslager waren. Ein derart facettenreiches und gleichwohl in sich stimmiges Dokumentarwerk hatte bis zum Erscheinen der beiden ersten „GULAG“-Teile 1973 noch kein Literat unternommen, was bis heute die Einzigartigkeit des Unterfangens ausmacht.
Veröffentlichung war Wettrennen mit KGB
Solschenizyn hatte bereits frühere Manuskripte im Selbstverlag veröffentlichen oder auf teilweise abenteuerliche Weise ins Ausland schmuggeln lassen müssen. Nach der Machtübernahme Leonid Breschnews 1964 war das Klima für Kritiker des Stalin-Regimes wieder repressiver geworden. Mit der Veröffentlichung von „Der Archipel GULAG“ im Ausland ging der Autor ein hohes persönliches Risiko ein. Die umfassende Dokumentation des Unrechts hielt dem totalitären Sowjetstaat unsanft einen Spiegel vor, in dem dieser die häßliche Fratze der eigenen Menschenverachtung erkennen mußte.
Die Veröffentlichung war das Ergebnis eines Wettrennens mit dem KGB, das der Autor gewann. Der Geheimdienst hatte nämlich Wind von dem gefährlichen Großprojekt bekommen. Schon seit 1965 gab es eine Akte über den Dissidenten. Doch der studierte Mathematiker hatte kühl kalkuliert und ein dichtes Kontaktnetz geknüpft. Die geheimen Texte waren auf verschiedene Orte verteilt. Im August 1973 verhörte der KGB eine enge Vertraute des Publizisten. Das Projekt war enttarnt. Solschenizyn handelte schnell, wies alle Helfer an, den Druck in die Wege zu leiten. Am 28. Dezember erschien das Werk in Paris.
Solschenizyn wurde sieben Wochen später verhaftet und erneut verbannt – diesmal ins Ausland. Er reiste nach Deutschland und konnte sich hier auf die Unterstützung von Schriftstellerkollegen und Bürgerrechtlern verlassen. Heinrich Böll gewährte ihm bei sich zu Hause vorübergehend Asyl. Der Nobelpreisträger von 1972 lobte das Werk seines russischen Kollegen als „Musterbeispiel der Dokumentarliteratur“ ohne einen „falschen Ton“. Millionenauflagen und Übersetzungen in die wichtigsten Sprachen Europas entlohnten den Ausgewiesenen für seinen Mut, die Verbrechen der Sowjets aufzudecken.
„Wer Rußland gutheißt, hat damit auch das Dritte Reich gutgeheißen“
Für sozialistische Studentenbünde, illusionsverliebte Intellektuelle mit progressiver Agenda und für den Marxismus entflammte Sozialromantiker war „Der Archipel GULAG“ ein Schlag in die Magengrube und für die europäische Linke – mit moskautreuen kommunistischen Parteien namentlich in Frankreich und Italien – eine Tretmine, auf der sie fest mit beiden Füßen stand. Wie zuvor bereits Hannah Arendt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ vermied der Verfasser die durch ideologische Einäugigkeit motivierte Unterscheidung von linkem und rechtem Terror sowie die Apostrophierung eines bestimmten Tätervolks. Er betonte, „die Torturen des 20. Jahrhunderts“ seien „überall auf der Welt denkbar“.
Daß der Kommunismus nur eine Spielart des Faschismus ist, hatte, noch viel früher als Solschenizyn und Arendt, übrigens auch ein berühmter Auslandskorrespondent der Frankfurter Zeitung festgestellt. Der hieß Joseph Roth, schrieb nebenbei Romane und kam Ende 1926 völlig ernüchtert von seiner mehrere Monate dauernden Rußlandreise zurück.
Das stalinistische Terrorregime zeichnete sich bereits deutlich ab. 1933 schrieb Roth an Stefan Zweig: „Keineswegs hat der Kommunismus ‚einen ganzen Weltteil verändert‘. Einen Dreck hat er! Er hat den Faschismus und den Nationalsozialismus gezeugt und den Haß gegen die Freiheit des Geistes. Wer Rußland gutheißt, hat damit auch das Dritte Reich gutgeheißen.“
Die Distanzierung linker Meinungsimperialisten ließ nicht lange auf sich warten: Zehn Jahre nach dem Erscheinen des „GULAG“, als die darin dokumentierten Gräuel zu verblassen begannen, mehrten sich unter dem Einfluß der sogenannten Friedensbewegung (von Abgeordneten der CDU/CSU auch gern als „fünfte Kolonne Moskaus“ betitelt) die Stimmen, die das Werk als nicht mehr in die Zeit passend diffamierten. In Anbetracht der als akut empfundenen Gefahr durch Pershings und Cruise Missiles und der Hoffnung namentlich der Grünen und anderer K-Gruppen, den Ost-West-Dualismus durch eine „Schwerter zu Pflugscharen“-Politik zu überwinden, war die Bedrohung durch den Sowjetkommunismus, dessen Repressionsapparat Solschenizyn so anschaulich beschrieben hatte, halb so wild. Der Bürgerrechtler, der 1994 als vollständig Rehabilitierter nach Rußland zurückkehren konnte und 2008 in Moskau verstarb, war nun wieder das, was ihn einst ins Arbeitslager gebracht hatte: reaktionär.
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Am 28. Dezember 1973 erschien bei YMCA-Press in Paris „Der Archipel GULAG“ über die sowjetische „Gefängnisindustrie“, so lautet der Titel des ersten Teils des Mammutwerks. Ohne die Heerscharen billiger Arbeitssklaven, die wesentlich für den Aufbau des Sozialismus waren, sei die Sowjetunion nicht vorstellbar, meinte dessen Autor Alexander Solschenizyn. Teil 2, „Ewige Bewegung“, widmet sich dem Transport der Sträflinge, den Verkehrs- und Verbindungswegen. In den siebziger Jahren wurden fünf weitere Teile des Mammutwerks veröffentlicht.