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Buch-Rezension: Hauptsache in der Mitte

Buch-Rezension: Hauptsache in der Mitte

Buch-Rezension: Hauptsache in der Mitte

CDU-Logo , Konrad -Adenauer Haus, Parteizentrale der CDU in Berlin, Bundesgeschaeftsstelle der CDU. Quo vadis CDU in der Nach-Merkel-Ära? Seit Jahren bekennt sich Die Partei zur sogenannten politischen Mitte, jedoch kämpft sie auch mit innerparteilichen Grundsatzfragen.
CDU-Logo , Konrad -Adenauer Haus, Parteizentrale der CDU in Berlin, Bundesgeschaeftsstelle der CDU. Quo vadis CDU in der Nach-Merkel-Ära? Seit Jahren bekennt sich Die Partei zur sogenannten politischen Mitte, jedoch kämpft sie auch mit innerparteilichen Grundsatzfragen.
Das Konrad Adenauer Haus der CDU in Berlin. Seit Jahren bekennt sich Die Partei zur „Mitte“, doch steckt in einer tiefen Sinnkrise. Vielen europäischen, ehemals konservativen Volksparteien geht es so Foto: picture alliance / Winfried Rothermel | Winfried Rothermel
Buch-Rezension
 

Hauptsache in der Mitte

Der Frankfurter Politikwissenschaftler Thomas Biebricher sieht den europäischen Konservatismus in einer tiefen Sinnkrise. In seinem neuen Buch „Mitte/Rechts“ warnt er gemäßigte Akteure davor, von populistischen Lautsprechern überrollt zu werden. JF-Autor Eberhard Straub hat es einer kritischen Prüfung unterzogen.
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Die Rechtfertigung der Neuzeit ergibt sich aus ihrer Fähigkeit, sich ununterbrochen zur allerneuesten Neuzeit zu überholen. Auf die innovativen Kräfte kommt es an, um alte Zöpfe abzuschneiden, verkrustete Strukturen aufzubrechen und die Zukunft plangemäß gestalten zu können. Darüber sind sich alle Politiker und Parteien einig. Meinungsverschiedenheiten gibt es höchstens über das Tempo der wünschenswerten und notwendigen Veränderungen, die „den Menschen“ und vor allem nicht „die Wirtschaft“ überfordern sollen.

Aber solche Differenzen lassen sich beruhigen, wenn die Zukunftsgestalter von der Mitte aus ins Weite blicken und nicht von Rändern und Ecken aus, was unweigerlich zu einer Verzerrung der Perspektive führt. Der Frankfurter Politikwissenschaftler Thomas Biebricher macht sich große Sorgen in seinem Buch „Mitte / Rechts“, ob Konservative diese empfehlenswerte Verankerung in einer „achtbaren Mitte“ überhaupt noch für verpflichtend halten. Diese ihn beunruhigende Entwicklung möchte er am italienischen französischen und britischen Beispiel veranschaulichen.  

Die Krise des Konservatismus erkennt er im dramatisch schwindenden Willen, von der Mitte aus um den Ausgleich kontroverser Vorstellungen bemüht zu sein. Denn die Aufgabe der Konservativen bestehe nun einmal darin, Ungeduldige davon abzuhalten, unvermeidliche Neuerungen überstürzt zu wagen, statt sie behutsam voranzutreiben. Wer viel wagt, gewinnt nichts! Der bürgerliche Thomas Biebricher variiert mit dem Preis der Mitte und des Mittelmaßes, wie er heute in der Zivilgesellschaft erwartet wird, allerdings keine konservativen Überzeugungen.

Bürger als anständige Mitte im 19. Jahrhundert

Es waren Bürger, die weder befehlen noch gehorchen können, weil nur daran interessiert, ungestört Geschäfte und Gewinne zu machen, die sich unter ihrem Bürgerkönig Louis Philippe ab 1830 in Paris als achtbare, anständige Mitte begriffen. Sie stimmten unermüdlich das Lob des Mittelmaßes an und feierten ihren Geist der klugen Berechnung, der vorsichtigen Halbheit und Schlauheit als schöpferischer, Ordnung schaffender und erhaltender Geist. 

Was Thomas Biebricher als genuin konservativ beschreibt, entspricht liberalen Vorstellungen. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, daß er den wahren und verantwortungsbewußten Konservativen nicht von den Liberalen trennt, sondern in die Nähe des Liberalismus rückt, an dem er als Liberal-Konservativer Anteil hat. Tatsächlich ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Konservativismus überall im Wirtschaftsliberalismus aufgegangen. Was aber ist nun der Wirtschaftsliberalismus, den Besitz und Bildung vertraten? Was meinen heute in der Massendemokratie emsiger Konsumenten noch Bürgertum, bürgerliche Lebensformen und bürgerliche Bildung? Wie ist deren Verhältnis zu den Rechten oder Linken, dem antifaschistischen Ethos und der faschistischen oder autoritären Gefahr für die Demokratie?

Die Konservativen treten bürgerlich auf, haben höhere Schulbildung, sind Unternehmer und Bankiers. Das unterscheidet sie nicht von den Rechten oder Rechtsradikalen, die Thomas Biebricher scharf von den Liberalen und Konservativen unterscheidet und als Feinde der Demokratie einschätzt. 

Selbst in Regierungspositionen ändern Rechte nichts

Wie können aber Konservative, wenn sie mit den Rechten kokettieren, destabilisierend für das demokratisch liberale System wirken, da wir doch längst gemäß manchen Analysen – an deren wissenschaftlichem Ernst Thomas Biebricher nicht zweifelt – in postdemokratischen Zeiten leben und das Vertrauen in den repräsentativen Parlamentarismus schwindet? Wer bestimmt eigentlich und aufgrund welcher Interessen die Position und Inhalte der sogenannten Mitte? Auf all diese Fragen weiß Thomas Biebricher keine Antwort und kann deshalb nicht erklären, warum das herkömmliche Parteiensystem – nicht nur in Italien, Frankreich und Großbritannien – nicht mehr funktioniert und trotz vieler Experimente nicht völlig verschwunden ist.

Die Beteiligung an den Wahlen läßt kontinuierlich nach, Parteien oder Bewegungen finden rasch Zustimmung und büßen sie ebenso rasch wieder ein, weil es ihnen immer schwerer fällt, die passenden Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart zu finden und Wege in eine bessere und schönere Zukunft zu ebnen. 

Er warnt aufgeregt vor der Machtübernahme der Rechten. Doch in Italien regieren sie, und nichts ändert sich. Die französischen Rechten haben nicht vor, die Ordnung umzustürzen und halten – wie alle Parteien – ihre Prinzipien so hoch, daß sie bequem darunter in verschiedenste Richtungen laufen können. Nichts ändert sich, was bleibt, ist die Schlauheit und Wendigkeit der Politiker, den Augenblick für den Vorteil und die Macht ihrer Gruppen zu nutzen, vor allem aber, um ihre Popularität zu steigern und in den Ruf des großen Wandlers und Gestalters zu gelangen.

Es sollte auch ein wissenschaftliches Schleierverbot geben

Nicht nur in den autoritären oder rechten Systemen, gerade auch in den westlichen Massendemokratien kommt es nicht auf Ideen und Programme an, sondern auf Personen, „charismatische Einzelne“, wie Thomas Biebricher oft genug hervorhebt. Er schildert ausführlich die Machenschaften im politischen Betrieb, dessen Mechanismen und die Beliebigkeit von Programmen und „Visionen“, die sofort aufgegeben oder neuen Stimmungen angepaßt werden, sobald sie keine Mehrheiten versprechen. 

Er hantiert mit inhaltsleeren Begriffen, die leicht austauschbar sind, und verhält sich in diesem Spiel nicht anders als die Politiker und ihre Spielgefährten in den Medien und Institutionen. Das liegt vor allem auch an seiner in den USA erlernten und geübten „Wissenschaftlichkeit“, viel von Methoden, Modellen, Systemen und Theorien zu reden, die mangelnde Begrifflichkeit ersetzen und dabei helfen, die Ahnungslosigkeit von den Wirklichkeiten, die konstruiert werden, geschickt mit sprachlichem Abrakadabra zu verschleiern.

Es sollte auch ein wissenschaftliches Schleierverbot geben! Thomas Biebricher stützt sich vorzugsweise auf angelsächsische Literatur, die er, wegen fehlender Sprachkenntnisse, für ausschlaggebend hält und erwähnt höchstens solche Franzosen oder Italiener, die englisch publizieren und mit der Sprache auch die ideologischen Konstruktionen übernehmen, mit denen eine recht unübersichtliche Realität übersichtlich gemacht werden soll. 

Es wimmelt von kognitiven Dissonanzen, Leitbildern nur schrittweisen Handelns und deren dezidiert präventiv prophylaktischer Dimension, von wedge issues, dog whistles, hot-button issues, von Framing oder degressiven trickle-down economics, die ohne alle sardonische Subtilität angesprochen werden. Gedankenarmut und Bequemlichkeit verbünden sich mit sprachlichen Dreistigkeiten, die dem geduldigen Leser den Eindruck geistiger Brillanz und souveräner Beherrschung von Stoffmassen verschaffen sollen. Die Welt will getäuscht sein, sagten illusionslose Römer. Aber will sie es auf diese Weise? 

JF 28/23

Das Konrad Adenauer Haus der CDU in Berlin. Seit Jahren bekennt sich Die Partei zur „Mitte“, doch steckt in einer tiefen Sinnkrise. Vielen europäischen, ehemals konservativen Volksparteien geht es so Foto: picture alliance / Winfried Rothermel | Winfried Rothermel
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