„Gott – Ehre – Vaterland“ – Wäre es denkbar, in der deutschen Hauptstadt einen Kongreß zum Thema „Nationalkonservatismus“ unter diesem Schlachtruf zu veranstalten? Wohl kaum. Anders in der italienischen Hauptstadt. Das ehrwürdige Grandhotel Plaza im Zentrum Roms war am 4. Februar Schauplatz einer Vortragsreihe, die von mehreren konservativen „Denkfabriken“ organisiert wurde.
Sie gaben einigen der wichtigsten Persönlichkeiten der konservativen Rechten Gelegenheit, ihre Vorstellungen den etwa 250 Teilnehmern zu präsentieren. Als Ausgangspunkt hatte man die „Glorreiche Revolution von 1989“ (Chris DeMuth) gewählt und die Rolle, die damals zwei konservative Führer spielten: US-Präsident Ronald Reagan und Papst Johannes Paul II. Tatsächlich waren viele Referate bestimmt von einem Verständnis des Begriffs „konservativ“, das einerseits in der angelsächsischen Tradition, andererseits im christlichen Glauben, vor allem dem Katholizismus, verwurzelt ist. Das erklärte die antitotalitäre Wendung, aber auch die Überzeugung praktisch aller Referenten, daß der Konservatismus eines religiösen Bezugs bedarf.
Man sollte daraus aber nicht schließen, daß hier Nostalgien gepflegt wurden. Das war schon den Ausführungen Rod Drehers zu entnehmen, eines amerikanischen Autors, der auch dem deutschen Publikum durch sein Buch Die Benedikt-Option bekannt geworden ist. Dreiher betonte zwar die Bedeutung des Kampfes gegen den Totalitarismus, hob aber hervor, daß wir es heute weniger mit der Wiederkehr der alten Dämonen zu tun haben, sondern eher mit einem neuen.
„Freude am Widerstand“
Seinen Vorgängern ähnelt der insofern, als ihn die Massen begrüßen, weil er Erlösung verspricht. Er kann als social iustice warrior auftreten und Gleichheit um jeden Preis fordern, aber auch als Verfechter progressiver Identitätspolitik, der diversity und positive Diskriminierung verlangt. Die Ansätze zur Realisierung seiner Projekte reichten vom „pink policy state“, der sein Herrschaftsmodell gerade an den westlichen Universitäten erprobt, bis zum chinesischen Überwachungsregime, von der milden Manipulation à la Huxley bis zum brutalen Durchgriff à la Orwell. Als Mittel dagegen setzte Dreher auf die „Freude am Widerstand“ und das Prinzip „Solidarität“.
Die Bezugnahme auf das Prinzip „Solidarität“ erklärt sich bei Dreher aus seiner Sympathie für den „Distributismus“, der in der Zwischenkriegszeit von Gilbert Keith Chesterton und Hilaire Belloc entwickelt wurde. Sie strebten eine konservative und christliche Erneuerung an, die zwar nicht dem Grundsatz des Eigentums, aber dem Grundsatz der Ausbeutung feindlich gegenüberstand. Damit vertrat Dreher eine kapitalismuskritische Position, die vielen Teilnehmern kaum gefallen haben dürfte.
Allerdings zeigte sich eine überraschende Nähe zu den Ideen des israelischen Theologen Yoram Hazony, der hier als Vorsitzender der Burke Society auftrat und über den Brexit und seine Folgen sprach. Bezeichnend war schon, daß Hazony der Versuchung widerstand, Burke als „Altliberalen“ zu präsentieren. Vielmehr hob er dessen grundsätzliche Kritik an allen rationalistischen Entwürfen eines besten Staates hervor. Daraus leitete Hazony die Anerkennung des Eigenrechts der Nation ab, die gerade nicht als Ergebnis eines „Vertrags“, sondern als Ergebnis der Geschichte zu betrachten sei.
„Bruderschaft“ von Nationen
Aus ihrem Vorhandensein folge wie aus dem Vorhandensein der Familie eine Verpflichtung, die der Einzelne nicht in Abrede stellen könne, da ihm die Nation wie die Familie vorgehe. Der einen wie der anderen verdanke er seine Existenz, auch seine individuelle Freiheit. Denn ohne die Macht, die die Nation konstituiere, und ohne das Recht, das sie begründe, könne es keine Freiheit geben. Wer diesen Grundsatz verfechte, könne durchaus als „Nationalist“ bezeichnet werden. Wie schon in seinem vielbeachteten Buch The Virtue of Nationalism versuchte Hazony, auch hier den Begriff zu rehabilitieren und beharrte darauf, daß er heute unzulässig verengt werde.
Das Eintreten für die eigene Nation bedeute gerade nicht, daß man den Übergriff auf andere Nationen gutheiße. Im 21. Jahrhundert müsse es vielmehr darum gehen, eine „Bruderschaft“ von Nationen zu begründen, die ihre Unabhängigkeit verteidigten und gleichzeitig dort zusammenstünden, wo das notwendig sei, angesichts der Gefahren, die von vielen Seiten drohten. Was für den Brexit und gegen die EU spreche, sei eben die Tatsache, daß die Union weder die Souveränität ihrer Mitglieder anerkenne, noch in der Lage sei, Europa einen angemessenen Platz in der Welt zu sichern.
Erstaunlicherweise wurde dieses Votum zu Gunsten eines neuen Nationalismus auch von anderen Referenten geteilt. Während es Douglas Murray zukam, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß das Wort Nationalismus in Amerika einen anderen Klang habe in Europa; und in Israel einen anderen als in Deutschland, möchte man hinzufügen. Man könne den Begriff jedenfalls nicht von seiner Geschichte lösen, und wer das 21. Jahrhundert gestalten wolle, müsse doch darauf achten, daß er die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vermeide.
Identität und Souveränität
Was er damit meinte, wurde deutlich an der Art und Weise, in der Murray als Brexiteer ein flammendes Plädoyer für den notwendigen Zusammenhang von Identität und Souveränität hielt. Zu den wichtigen Hinweisen, die man seiner Rede entnehmen konnte – die sicher die unterhaltsamste der Tagung war –, zählte allerdings auch, daß die Linke wohl überall dasselbe reden könne, die Rechte aber nicht. Die Konservativen der verschiedenen Länder stünden alle in verschiedenen Überlieferungen, sähen sich vor verschiedene Fragen gestellt und müßten die Antworten auf verschiedenen Wegen suchen.
Wie zutreffend diese Einschätzung ist, konnte man am Vortrag von Marion Maréchal ablesen. Der hatte zwar auch eine deutlich gegen die EU gerichtete Tendenz, bot aber vor allem interessante Einblicke in ihr Selbstverständnis. Jedenfalls proklamierte sie sich hier zur Erbin einer konservativen „Bewegung“, nicht einer konservativen Partei, die von den Royalisten bis zu den Gaullisten reiche.
Wenn Marion Maréchal damit auch einen Anspruch auf direkte Einflußnahme in ihrer Heimat Frankreich verbindet, so war doch gleichzeitig zu spüren, daß sie – anders als konservative Politiker sonst – einen theoretischen Horizont hat. An ihrer Forderung nach einem Konservatismus als „Humanismus des 21. Jahrhunderts“ war das ebenso ablesbar, wie an dessen Definition als „Ökologie“ im umfassenden Sinn, die nicht nur die Natur, sondern auch die Kultur zum Gegenstand ihrer Sorge mache. Eine gewisse Irritation löst in dem Kontext allerdings ihr Vorschlag zur Bildung einer „lateinischen Union“ – mindestens bestehend aus Frankreich, Italien und Spanien – aus.
Die Idee hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs Alexandre Kojève formuliert, um die imperiale Sendung Frankreichs zu retten. De Gaulle neigte ihr phasenweise zu, da ein solches „Reich“ geeignet war, Deutschland in Schach zu halten. Irgendeine tragfähige Basis hatte der Ansatz aber schon damals nicht, und es bleibt die Frage, wie jemand heute auf den Gedanken kommen kann, ein derartiges Projekt wiederbeleben zu wollen.
Die Vereinzelung aufgeben
Die Neigung, nach Alternativen zur Reorganisation Europas zu suchen und sich nicht mehr auf die alten Mechanismen zu verlassen, war allerdings auch den Ausführungen Viktor Orbáns anzumerken. Im Gespräch mit Chris DeMuth führte der ungarische Regierungschef aus, was er wahlweise als „nationalkonservative“, „christdemokratische“ oder „populistische“ Linie bezeichnete.
Für ihn wie für seine ganze Generation habe 1989 einen Einschnitt bedeutet. Denn die Wendung gegen den Kommunismus sei vor allem eine Wendung gegen dessen Denkstil gewesen. Erschüttert habe ihn deshalb, daß das, was heute als „liberal“ gelte, im Grunde auf eine Wiederkehr dieses Denkstils hinauslaufe. Das werde allerdings nur von wenigen Vertretern des bürgerlichen Lagers bemerkt, die – wie man am Beispiel der Europäischen Volkspartei deutlich sehe – ihre Prinzipien Stück für Stück aufgäben und ihrem Gegner immer ähnlicher würden. Angesichts dessen sei eine „Konterrevolution“ nötig, die er allerdings noch im Alleingang betreiben müsse.
Einen Grund zur Resignation sehe er trotzdem nicht. Die Folgen der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 eröffneten den Nationalkonservativen eine große Chance, die sie nutzen sollten, um den Kampf um die Deutungshoheit wieder aufzunehmen. Abgesehen von der Frage der wirtschaftlichen Stabilität sei es die Frage der Identität, deren Beantwortung über die Zukunft unseres Kontinents bestimme. Eine Vorstellung, die der überwältigenden Mehrheit der Teilnehmer des Kongresses aus dem Herzen sprach, die Orbán mit stehender Ovation verabschiedeten.
Was die Veranstaltung in Rom deutlich werden ließ, ist, daß die Konservativen keineswegs die „Partei der Dummköpfe“ (John Stuart Mill) sind. Ihre Diagnosen und ihre Prognosen können erheblichen Einfluß auf die Debatte gewinnen, wenn es ihnen gelingt, die Resignation hinter sich zu lassen, die Vereinzelung aufzugeben und eine Internationale zu schaffen, deren erste Umrisse in Rom zu erkennen waren.