Unter dem oberflächlichen Mediengeschnatter zeichnet sich allmählich der Frontverlauf ab: Hier der – aktuell in Thilo Sarrazin personifizierte – Versuch, Klartext über die Lage des Landes und seine Zukunft zu reden; dort das Festhalten der politisch-medialen Klasse an der Vision einer „bunten Republik“ unter Aussparung der Fakten.
Das bedeutet: Sprache ist Macht! Wer bestimmen kann, welche Ereignisse, Entwicklungen, politischen Entscheidungen diskutiert werden dürfen und welche nicht, der darf sich als Inhaber realer Macht fühlen. Gewiß, die Kompetenz, Sprecherlaubnisse zu erteilen und Sprechverbote zu verhängen, findet man in reiner Form nur in Diktaturen vor.
In Demokratien verläuft die Informations- und Meinungssteuerung subtiler. Vordergründig darf hier alles gemeint, gesagt und veröffentlicht werden. Weil in modernen, partikularisierten Gesellschaften die Verständigung über Massenmedien stattfindet, können diejenigen, die sie in den Händen halten, jedoch ihre eigenen Sprachregelungen durchsetzen.
Potentielle Gedankenverbrecher
Hinter ihren Losungen, seien sie auch noch so falsch, können sie Mehrheiten versammeln durch die schlichte und andauernde Behauptung, sie entsprächen der Mehrheitsmeinung. Denn das Gegenteil läßt sich weder beweisen noch öffentlichkeitswirksam plazieren. Die Art und Weise, wie über einen Sachverhalt gesprochen oder eben geheuchelt wird, unterliegt folglich harten Regeln. Jenseits davon beginnt das Tabu. Wer es berührt, wird selber ein Unberührbarer.
Das wichtigste Tabu ist zur Zeit noch der Nationalsozialismus. Hier greift der Paragraph 130, der seine Verharmlosung unter Strafe stellt. Er verschafft dem Zensor und dem Staatsanwalt Eingang in die Herzen und Hirne der Bürger, wo sie sie permanent ermahnen, daß jeder von ihnen ein potentieller Gedankenverbrecher ist. So wird mit der Zeit eine bestimmte Art des Sprechens und sogar des Denkens erreicht.
Eben erst mußte das Bundesverfassungsgericht dem Politikprofessor Konrad Löw beispringen, der in einer von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift die Auffassung vertreten hatte, daß die Deutschen im Dritten Reich mehrheitlich Mitgefühl für die Juden empfunden hätten. Die Bundeszentrale hatte ihn daraufhin als jemand geächtet, „der nicht mehr diskursiv erörtert, sondern nur noch makuliert werden kann“. Dieser Halbsatz aus der Feder der Verfassungsrichter beschreibt exakt die Praxis, die gegen Tabuverletzer zur Anwendung kommt.
Zu keiner rationalen Ausländerpolitik fähig
Andere Tabus sind die Gender-Ideologie, die Brüsseler Eurokraten-Herrschaft, der angeblich menschengemachte Klimawandel sowie die Ausländerfrage, die gleichfalls unter dem drohenden Vorbehalt des Paragraphen 130 („Volksverhetzung“) steht. Vom Ausländer-Tabu abgespalten und verselbständigt hat sich das Islam-Tabu, dessen Bedeutung und Wirksamkeit täglich anwächst. >>
Dieses Sprechverbot besitzt eine neue, gefährliche Qualität, weil seine Verletzung auch körperliche Gefahren nach sich ziehen kann. Dem NS-Tabu macht es bereits die Vorherrschaft streitig. Noch steht es mit ihm in symbiotischer Verbindung, aus der sich bald seine Überformung ergeben wird. Dieses Doppeltabu dürfte sich als das politisch entscheidende erweisen!
Unter seinem Eindruck erschöpfen die fälligen Debatten sich in der Behandlung von Schein-, Teil- oder sekundären Konflikten. In der sogenannten Integrationsdebatte schlagen deutsche Politiker sich schuldbewußt an die Brust und bekennen, sie hätten zu lange der „Lebenslüge“ angehangen, daß Deutschland kein Einwanderungsland sei. Das Kernproblem liegt aber darin, daß der deutsche Staat im Banne des NS-Tabus zu keiner rationalen Ausländerpolitik fähig gewesen ist.
Schein-Experten mit Anspruch auf Projektgelder
Dazu hätte es gehört, diejenigen, die Zugang begehren, gemäß der eigenen Interessenlage zu sortieren und gegebenenfalls zurückzuweisen. Seitdem das Islam-Tabu hinzugekommen ist, ist ein derartiger Politikwechsel erst recht nicht zu erwarten.
Im Gegenteil, das Manifest eines ominösen „Netzwerkes für Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung“, das die taz unmittelbar vor dem 3. Oktober abgedruckt hat, könnte sich als zukunftsträchtig erweisen. Es wurde unterzeichnet von Hunderten Zuwanderer-Lobbyisten, Angehörigen der Betreuungs- und Wohlfahrtsindustrie sowie einschlägigen Schein-Experten mit Anspruch auf Projektgelder.
„Wenn wir über die Verhältnisse und das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sprechen wollen“, heißt es da, „dann müssen wir aufhören, von Integration zu reden.“ Denn „Integration“ bedeute, Menschen einen „Verhaltenskodex“ aufzunötigen, bevor sie gleichberechtigt dazugehören. „Die Rede von der Integration ist eine Feindin der Demokratie.“
„Perioden teilweiser oder völliger Unfruchtbarkeit“
Hier wird „Demokratie“ als Einfallstor für eine feindliche Übernahme definiert: ein Angriff, dem mit jener Entschlossenheit begegnet werden müßte, wie sie aus dem Bewußtsein unveräußerlichen eigenen Rechts entspringt. Doch dieses Recht steht unter – Tabu!
Man hüte sich also, die Resonanz des Thilo Sarrazin schon als Ankündigung einer Trendwende und Enttabuisierung zu betrachten. Es gibt auch Endlosschleifen und Regressionen.
Bertolt Brecht hegte in den 30er Jahren tiefe Zweifel darüber, ob die Vernunft dem Ansturm des Wahnsinns auf Dauer gewachsen sei. In der „Rede über die Widerstandskraft der Vernunft“ wies er darauf hin, daß „das menschliche Denkvermögen in erstaunlicher Weise beschädigt werden“ könne. „Dies gilt für die Vernunft der einzelnen wie der ganzer Klassen und Völker. Die Geschichte des menschlichen Denkvermögens weist große Perioden teilweiser oder völliger Unfruchtbarkeit auf. Der Stumpfsinn kann, mit geeigneten Mitteln, in großem Umfang organisiert werden.“ In einer solchen Phase befinden wir uns gerade.
JF 41/10