Eine Oase der Entschleunigung stellt noch immer die Dorfkirche dar. Auch wenn die Bauernkaten und Gutshäuser mit Ausnahme der alten Mühle längst verschwunden sind und an ihrer Stelle moderne Mehrfamilienhäuser stehen. Und während sich das Gotteshaus nächtens in Dunkelheit hüllt, glänzt, glitzert und glimmert es von den benachbarten Balkonen. Ein Jubelfest des Lichtes.
Die Adventszeit läßt sich eben sehr verschieden feiern, besinnlich und leise oder eben aus tausend LED-Leuchten strahlend. Und die Nachbarschaft meint es ja nicht böse. Im Gegenteil, jeder soll ihre Lebensfreude sehen, ihre neuen Kreationen, mit denen sie an diesen Tagen dem Gedenken an Christi Geburt (JF publizierte dazu) entgegenfiebert oder einfach einem Fest, an dem die Familie beim Festtagsessen zusammenfindet und man einander kleine oder große Geschenke überreicht.
Der Übergang von Halloween in den Advent in Deutschland ist längst fließend. Wo gerade noch bleiche Skelette von der Wand hingen, riesige schwarze Spinnen lauerten und von Kerzen erleuchtete Riesenkürbisse zähnefletschend grinsten, schweben nun hell angestrahlte Schneeflocken, Engel und Herrnhuter Sterne. Nur wer wenigstens noch Grundkenntnisse über die Bedeutung des Kirchenjahres besitzt, wartet wenigstens den Totensonntag ab, bevor er mit den farbenprächtigen Installationen auf seinem Balkon beginnt.
Am Weihnachtsmarkt regiert der Lärm
Manche Bürger verstecken sich gar hinter Kaskaden von neonblauen Schleiern, über die weiße Eiskristalle hinweghuschen. Keine Chance mehr für Wichtel- und Heinzelmännchen, Feen, Elfen oder andere Helfer des Weihnachtsmannes, ins Wohnzimmer zu spähen, um herauszufinden, wie es um den familiären Adventsfrieden tatsächlich bestellt ist, ob der Alte Heiligabend den Sack mit Geschenken vollstopfen darf oder lieber zur Rute greifen sollte.
Die besinnliche Adventszeit ist zwar stimmungsvoll geblieben, aber die Stimmung ist gekippt. Nicht nur sind die Weihnachtsmärkte zu lauten Stätten für sich am glühweinberauschenden Zipfelmützenträgern geworden, die ihre fröhliche Stimmung über allen anderen auskippen wollen, auch die um die Wette in allen Farben des Regenbogens flimmernden Balkone sind nicht unbedingt Zeichen der Nächstenliebe.
Zwar spottet beispielsweise Focus über zweieinhalb Meter große Schneemänner auf Rasenflächen in den Vorgärten, die wie „beleuchtete Mahnmale gegen dezente Ästhetik“ aussehen, und konstatiert, längst sei die Grenze zwischen „Weihnachtszauber und optischer Körperverletzung“ verschwunden und „statt still und heimlich“ laute das Motto mittlerweile „hell und stroboskopartig“. Es werde nicht dekoriert, sondern flächendeckend markiert.
Lichter lösen Glücksgefühle aus
Aber Psychologen geben den Lichterglanz-Fanatikern und nicht den zynischen Journalisten recht. Beim Anblick der weihnachtlichen Dekoration werde Dopamin ausgeschüttet, der „Botenstoff des Glücks“, der die Menschen an die unbeschwerte Zeit der eigenen Kindheit erinnert und Vorfreude auslöst. Bereits 1989 publizierte das Journal of Environmental Psychology eine Studie, nach der Weihnachtsdekoration im Außenbereich des Eigenheims dafür sorge, daß die Bewohner von ihren Nachbarn als freundlicher und sozialer eingeschätzt werden, als sie bis dahin galten.
Selbstverständlich unterstützt der Handel diese menschliche Sehnsucht nach Hoffnung mit immer neuen Kreationen bunter, blinkender und überdimensionaler Dekoration. Aber auch hier bleiben die Menschen sich treu. Wie die Großväter und Väter einst in der Adventszeit die Modelleisenbahn aus dem Keller holten und wie in den Vorjahren – nur ergänzt durch eine vielleicht neue Lokomotive oder ein Bahnwärterhäuschen – wieder aufbauten, so schmücken die meisten ihren Balkon oder die Terrasse mit Glühlampen aus den Vorjahren.
Sicher, man geht auch da mit der Zeit und es gibt durchaus nachbarliche Wettbewerbe. Und kaum jemand traut sich noch, den einst aus Sperrholz selbstgesägten Schwibbogen auf die Fensterbank zu stellen. Dabei hat man sich damals so seine Gedanken über die Motive gemacht, während man die filigranen Teile mühsam aussägte und über zerbrochene Sägeblätter fluchte, hat nachgedacht über das traditionelle Schwarzenberger Bild mit den beiden Bergleuten in Festtagstracht neben den gekreuzten Schwertern und den gekreuzten Hämmern in der Grubenlampe, über den Holzspielzeugschnitzer und die Klöpplerin.
Längst leuchtet nicht nur ein Stern
Inzwischen gibt es prächtige dreidimensionale Stadtansichten als Motiv mit indirekter elektrischer Beleuchtung im Netz- oder Batteriebetrieb. Oder Schwibbögen, in deren Mittelpunkt eine sich drehende Pyramide in einer Winterlandschaft steht.
Auch stehen die Schwibbögen längst im Schatten der Herrnhuter Sterne, deren Hersteller jedes Jahr die Sternsüchtigen mit neuen, limitierten Editionen überraschen und zur Kasse bitten. Längst leuchtet nicht nur ein Stern, sondern ganze Sternenhimmel und dahinter Lichterketten und angeleuchtete Engelsfiguren
„Schaut mal, ein Herrnhuter Stern“
Davor stehen aufgeblasene Schnee-, Weihnachtsmänner, mitunter samt Rentiergespann, und nicken grüßend zu den Passanten herab. Gesetzlich erlaubt ist alles, was keinen Lärm macht und lichttechnisch nicht das Nachbargrundstück ausleuchtet oder ins fremde Schlafzimmer strahlt. Längst umfaßt das Angebot auch Lichtervorhänge und Projektionslampen. Und auch alljährliche Trendfarben gibt es zum Weihnachtsfest, auch wenn die sich lediglich in Nuancen vom Burgunderrot bis Marineblau des Vorjahres unterscheiden. Wer auf Weihnachtsmänner verzichtet, kann mit Schneemännern, Eiskristallen und den als Zeichen des Winters geltenden hellen Blautönen seinen Außenbereich schmücken – und ist gleich bis zum Beginn des Frühlings versorgt.
Alle Trends und Modeerscheinungen mal beiseitegelassen – es wäre deutlich zu zynisch, anzunehmen, daß niemand mehr für den Zauber der Festtage empfänglich sei. Erst neulich hörte ich einen Raucher von seinem lichtergefluteten Balkon seinen Liebsten im Inneren der Wohnung zurufen: „Schaut mal, ein Herrnhuter Stern.“ Er deutete auf die ansonsten in die Dunkelheit gehüllte Kirche, als würde sie er zum ersten Mal sehen: „Er leuchtet rot, wie romantisch.“ Und zwei Kinder kommen neugierig auf den Balkon und rufen begeistert: „Wie schön!“





