Manchmal ist die Freiheit nur eine schmale Gasse zwischen meterhohen Mauern. Wer sie durchqueren will, muß sich dicht an den Wänden entlangzwängen, zur Rechten wie zur Linken. So oder so ähnlich muß sich der Philosoph Dieter Schönecker an diesem Mittwochabend gefühlt haben, als er in der Bibliothek des Konservatismus (BdK) tief im alten Westberlin auftrat, um dort unter dem Titel „Akademische Verbannung: Die Wissenschaftsfreiheit und ihre Feinde“ über die Einschränkung von Forschung und Lehre an Deutschlands Hochschulen zu sprechen.
Der Kant-Forscher von der Uni Siegen stützt sich bei seinen Ausführungen nicht allein auf anekdotisches Wissen aus seinem Berufsleben. Als Mitinitiator des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ ist er vielmehr bestens mit dem Tendenzbetrieb in den Seminarräumen und Vorlesungssälen bekannt. Gerade in den Geisteswissenschaften hätten Nachwuchswissenschaftler mit unorthodoxen Forschungsinteressen kaum noch eine Chance, sagte er. Seine bisherigen Erfahrungen faßt er nüchtern in dem Befund zusammen: „Die Linken haben die Schulen und Unis übernommen – das ist das Problem.“
Das Problem, das es nicht geben darf
Eine der größten Schwierigkeiten ist dabei, im Universitätsmileu über diesen Umstand zu diskutieren. Das Problem werde nämlich beständig geleugnet, betont Schönecker. „Die These, Kritiker der angeblichen akademischen Verbannungskultur könnten immer nur auf einige wenige Fälle verweisen, akademische Verbannung finde gar nicht statt, ist selbst ein Mythos – oder wie man eigentlich sagen müßte, ein Metamythos“, erläutert er.
Insofern ist der Vortrag des Philosophen schon an sich bemerkenswert. Er leistet eine Diskussion, die eigentlich an den Universitäten selbst stattfinden müßte. Der Politologe Martin Wagener, an diesem Abend zu Gast im Publikum, faßt diese besondere Lage später in der Bemerkung zusammen, daß es wichtig sei, immer wieder erneut an die oft so selbstverständlich wirkende Wissenschaftsfreiheit zu erinnern.
Spielverderber für Kulturkämpfer
Dennoch ist Schönecker an diesem Sommerabend weit entfernt von plumper Freund-Feind-Rhetorik. Er will nicht polemisieren, sondern ist um ein ehrliches Verständnis für die Schieflage bemüht, in welcher sich Forschung und Lehre derzeit befinden. Zwar lande Deutschland bei vielen Studien zum Thema „Wissenschaftsfreiheit“ nach wie vor auf Spitzenplätzen, erläutert er. Doch weil diese oftmals nur Einschränkungen wissenschaftlicher Arbeit durch den Staat, also „von oben“ untersuche würden, falle die Gefahr „von unten“, also der autoritäre Drang aus der Wissenschaft selbst, bei den meisten Erhebungen unter den Tisch.
Um diesen Drang zu verstehen, bietet Schönecker die für Philosophen so typische kleinteilige Begriffsarbeit auf, der das Publikum – darunter der Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau oder der Autor Thilo Sarrazin – bereitwillig folgen. Denn in den hochschulpolitischen Streitständen der Gegenwart wählt Schönecker bewußt eine pointiert liberale Zwischenstellung – und ergreift damit weder für woke Beglückungsphantasien noch für den von konservativer Seite manchmal demonstrativ zur Schau gestellten Antiintellektualismus Partei. Das macht ihn für überzeugte Kulturkämpfer jeder Couleur mit ihren einstudierten Empörungsgesten ein Stück weit zum Spielverderber.
Hypermoral? Moralischer Fortschritt!
Statt von „Cancel Culture“ spricht Schönecker lieber von „akademischer Verbannung“. Das Wort „Cancel Culture“ ist ihm nicht recht. Es sei im Laufe der Zeit zu einem „dichten Begriff“ geronnen, dessen negative Konnotationen einen sachlichen Umgang mit ihm verstellten. In der Sache lasse sich nämlich durchaus vertreten, daß das, was Konservative oftmals als „Hypermoral“ schmähten, in Wirklichkeit ein Anzeichen moralischen Fortschritts sei. „Aristoteles hatte kein Problem mit der Sklaverei, wir – fast alle – schon; Kant hatte ein Problem mit Homosexualität, wir – jedenfalls viele von uns – nicht. Das kritikwürdige Phänomen ist also nicht eine inflationäre Moralisierung“, entwickelt er seinen Gedanken.
Problematisch sei vielmehr die Unfehlbarkeit, in der sich viele woke Akteure an den Universitäten wähnten. Diese „epistemische Arroganz“ führe dazu, daß Begriffe inflationär aufgebläht und ausgeweitet würden, bis sie alles und nichts bezeichneten. Beispiel: Rassismus. Dieser werde mittlerweile als „Rassismus ohne Rassen“ auch Leuten vorgeworfen, die gar keine traditionell als rassistisch empfundene Verhaltensweisen an den Tag legten.
Die Wissenschaftsfreiheit wird bedroht – auch von rechts
Die zentrale These des Abends aber ist eine andere, nämlich, daß die Wissenschaftsfreiheit nicht nur von links, sondern zunehmend auch von rechts in Frage gestellt wird. Schönecker berichtet von einer Podiumsdiskussion der Hayek-Gesellschaft im Oktober vergangenen Jahres. Das Thema: „Moral als Keule“. Zu den Diskutanten zählten neben der Publizistin Birgit Kelle auch der Unternehmer Markus Krall und der Journalist Ralf Schuler.
Als Schönecker bei der Veranstaltung über das Szenario sprach, daß die AfD, einmal in Regierungsverantwortung, wohl alles daransetzen würde, die Genderwissenschaften zu verbieten, brandete lauter Applaus auf. Für das Verbot wohlgemerkt, nicht für das Referat des Philosophen. Schönecker wertet dieses Erlebnis als Beleg, daß in einigen Konservativen dasselbe Verlangen nach Beschränkung von Forschung und Lehre rumore wie unter der herrschenden Wokeness. „Wer sich konsistent und ernsthaft für die Wissenschaftsfreiheit einsetzt, muß sich für die Wissenschaftsfreiheit aller Wissenschaftler einsetzen“, mahnt er mit Verweis auf die auf Kant zurückgehende Tradition des moralischen Universalismus, der zufolge Werturteile entweder allgemeingültig seien oder aber keinen Bestand für sich beanspruchen könnten.
Schönecker: Müssen den Staat aus der Wissenschaft heraushalten
Eine Mahnung, die in der auf den Vortrag folgenden Diskussion etwas unterzugehen scheint. Dort werden nämlich vor allem verwunderte bis erregte Nachfragen laut, wie man die in den 90er Jahren populär gewordenen Gender Studies wissenschaftlich überhaupt ernst nehmen könne. Thilo Sarrazin beispielsweise merkt an, daß Wissenschaftsfreiheit zwar schön und gut sei, der Staat im deutschen Universitätssystem aber dennoch sehr wohl bestimmen dürfe, wofür er öffentliche Gelder aufwende und wofür nicht.
An dieser Stelle zeigt sich Schönecker reserviert. Eine solche Vergabepolitik würde unterstellen, daß der Staat bestimmen könne, was wissenschaftlich sei und was nicht. Eine Voraussetzung, die der gebürtige Kölner bei aller Sympathie vehement bestreitet. „Wir dürfen auf keinen Fall dem Staat einen Anlaß geben, zu definieren, was Wissenschaft sei“, fordert er. Mit seiner argumentativen Mittelstellung zwischen Wokeness und Konservatismus scheint der Philosoph im Publikum teils auf Wohlwollen und teils auf Unverständnis zu stoßen.
Bildung nach der Universität
Die Diskursarbeit, die Schönecker in der Bibliothek nahe dem Berliner Zoo leistet, müßte eigentlich in Deutschlands Hochschullandschaft selbst stattfinden. Darin scheinen sich an diesem Abend alle einig. So wird sie gleichsam ausgelagert.
Es gereicht nicht zuletzt auch der Bibliothek des Konservatismus zu Ehren, als Ort dieser akademischen Selbstkritik für die Akademie einzuspringen. Ein wenig wird dadurch auch deutlich, wie Bildung in einer Welt aussieht, in der die Universitäten als Bildungsinstanz ausfallen. Auch die engste Gasse führt eben irgendwann ins Offene.