Mit beiden Armen stützt sich Christopher Anthony Lunsford auf das Lenkrad seines Wagens. Draußen scheint es bereits langsam dunkel zu werden. Der Rotschopf blickt nachdenktlich in die Kamera und sagt ernst: „Die Leute sind es einfach leid, daß sie es leid sind.“
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Mit seiner Musik hat Lunsford gerade die amerikanischen Billboard-Charts gestürmt und dabei mal eben so Popgiganten wie Taylor Swift, Dua Lipa oder Miley Cirus in die Schranken verwiesen. In einem etwas verwackelten, im Internet geteilten Video will er sich nun seinem Publikum vorstellen. Seine Botschaft hat es in sich. „Überall sehe ich dasselbe: Egal, wie sehr sich die Menschen anstrengen und wieviel Mühe sie sich geben, sie kommen auf keinen grünen Zweig“, klagt er. Der Dollar sei nichts mehr wert. Die Steuern seien zu hoch. Nachdenklich schaut Lunsford dabei in die Kamera.
Musikalischer Senkrechtstarter
Noch nie hat ein Künstler die Tabellenspitze erobert, ohne vorher schon einmal in den Charts platziert gewesen zu sein. Mit „Rich Men North Of Richmond“ hat Lunsford, der unter dem Künstlernamen Oliver Anthony auftritt, eine Art SOS-Signal für die Arbeiterklasse des Landes geschrieben. „Ich habe meine Seele verkauft, arbeite den ganzen Tag, Überstunden, für einen beschissenen Lohn“, singt der Rotschopf in seinem Lied, das mittlerweile praktisch überall in den Vereinigten Staaten läuft.
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In seinen Texten beklagt er die hohen Steuern im Land, Drogen- und Kindesmißbrauch, sowie eine Generation ohne spirituelle Verwurzelung. In den sozialen Medien wird er deshalb schon als „Donald Trump der Musik“ bezeichnet. „Deine Dollar sind nichts wert und du wirst endlos besteuert, wegen der reichen Männer nördlich von Richmond“, so eine weitere Zeile aus dem unverhofften Hit-Wunder.
Lunsford fühlt sich der Kultur der Appalachen verpflichtet – einer Bergregion, die von Maine im äußersten Nordend er Vereinigten Staaten bis nach Alabama im Süden des Landes reicht. Schon Politiker wie Thomas Jefferson und Schriftsteller wie Wendell Berry oder Naturschützer wie Rachel Carson haben diesem Landstrich mit ihrem Schaffen ein Denkmal gesetzt. Aber auch der Unternehmer J.D. Vance, der 2016 mit seiner „Hillbilly Elegy“ einen Bestseller über das schwierige Leben in der wirtschaftlich abgehängten Region vorlegte.
Oliver Anthonys Musik erinnert an Genregrößen wie Colter Wall
Auf seiner Gitarre spielt Lunsford Folk und Country. Seine Musik erinnert an markige Genregrößen wie Hank Williams Jr. und Chris Stapleton, mit dessen Stimmgewalt er durchaus mithalten kann. Sie erinnert auch an die nachdenklichen Verse von Colter Wall, aber auch an Sänger wie den amerikanische Sozialisten Woody Guthrie, aus dessen Feder der Dauerbrenner „This Land Is Your Land“ stammt.
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Die meisten seiner Songs hat Oliver Anthony – der in einem notdürftig zusammengeflickten Wohnwagen leben soll – bisher einfach mit seinem Handy aufgenommen. „Rich Men North Of Richmond“ hat ihn dermaßen berühmt gemacht, daß er bereits Angebote aus der Musikindustrie im Wert von acht Millionen Dollar erhalten habe – die er dem eigenen Bekunden nach aber ausgeschlagen hat.
„Ich will keine sechs Tourbusse, 15 Sattelschlepper und einen Jet. Ich will keine Stadionshows spielen, ich will nicht im Rampenlicht stehen. Ich habe die Musik geschrieben, die ich geschrieben habe, weil ich unter Depressionen litt.“ Er sei einfach ein „Idiot mit einer Gitarre“, betont Oliver Anthony.
Christopher Anthony Lunsford – Sohn seiner Klasse
Mit 17 brach Oliver Anthony die Schule ab und arbeitete danach in einem Haufen Fabriken, um sich über Wasser zu halten. „Ich habe Zusatzschichten gemacht, sechs Tage die Woche für 14,50 Dollar die Stunde – in der Hölle des Lebens“, beschreibt er rückblickend die Zeit. Nach einem schweren Arbeitsunfall mußte sich Lunsford schließlich umorientieren und arbeitete als Industrievertreter weiter in den Fabrikhallen und auf den Baustellen des Landes.
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„Ich habe den ganzen Tag, jeden Tag, in den letzten zeh Jahren damit verbracht, die gleiche Geschichte zu hören. Die Menschen haben es so verdammt satt, vernachlässigt, geteilt und manipuliert zu werden“, berichtet Oliver Anthony aus den Gesprächen, die er damals mit zahllosen Büroangestellten führen mußte. Seine Einsichten aus dieser Zeit beschreibt er ausführlich in seiner Musik: „Gott, wir haben Menschen, die auf der Straße leben und nichts zu essen haben, während die Fetten die Wohlfahrt melken.“ Auch eine Zeile aus „Rich Men North Of Richmond“.
„Keine Bearbeitung, keine Agenten, kein Bullshit“
Während der Corona-Pandemie dann sei Oliver Anthony in ein tiefes Loch gefallen. „Damals sah die Welt für viele Menschen sehr düster aus und in vielerlei Hinsicht gehörte ich zu diesen Menschen. Ich habe viele meiner Nächte damit verschwenden, mich zu betrinken und Gras zu rauchen“, erläutert er in dem in seinem Wagen aufgenommenen Vorstellungsvideo. Seine Musik habe ihm dabei geholfen, diese seelische Krise zu überstehen.
Er ist sich sicher: „Meine Lieder haben Millionen von Menschen auf einer so tiefen Ebene erreicht, weil sie von jemandem gesungen werden, der die Worte genau in dem Moment fühlt, in dem sie gesungen werden. Keine Bearbeitung, keine Agenten, kein Bullshit.“ Von diesem Musikstil hätte man sich eigentlich nie entfernen sollen, mahnt der Newcomer.
Prägt Lunsford eine neue Art der Prominenz?
Seitdem fährt Oliver Anthony durchs Land, tritt auf und spielt seine Songs. Aber nur auf kleinen Bühnen, in kleinen Städten. Und zwar aus Prinzip – er will sich die Zeit nehmen, um die Geschichten zu hören, die ihm Menschen aus dem Publikum erzählen. Vor seinen Auftritten liest er aus der Bibel vor. Mal aus den Psalmen, mal aus dem Prediger. „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Neu ist allerdings diese Methode, ein landesweit bekannter Künstler ohne Plattenvertrag, Stadionkonzerte und überflüssiges Merchandise zu sein.
Dabei ist Christopher Anthony Lunsford, alias Oliver Anthony, beileibe nicht der einzige Musiker, der mit kritischen Statements zur Politik derzeit Erfolge in den Vereinigten Staaten feiern kann. Erst kürzlich hat der Countrysänger Jason Aldea mit seinem Song „Try That In A Small Town“ eine charttaugliche Abrechnung mit den teils katastrophalen Zuständen in amerikanischen Großstädten eingespielt.
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Aldea kam ebenfalls auf Platz Eins der Billboard-Charts. Im Unterschied zu ihm kann Oliver Anthony allerdings mit erheblich mehr künstlerischer Finesse punkten. Oliver Anthony ist kein singender Haudrauf, sondern steht mit seiner Musik für einen Konservatismus der kleinen Leute, der bewußt auf die Werte des Lebens reflektiert und sich auch vor philosophischen Untiefen nicht scheut. „Vielleicht ist es unser Hauptproblem, daß wir nicht mehr mit dem gesunden Menschenverstand denken“, philosophiert Lunsford auf dem Fahrersitz seines Wagens, in seinem mehr schlecht als recht gefilmten Vorstellungsvideo. Wer weiß, wo die Fahrt hingeht.