Den Umschlag des Buches ziert ein Gemälde des einem jüngeren Realismus verpflichteten Künstlers Dieter Kraemer aus dem Jahr 1976. In gedeckten Farben zeigt es einen VW-Arbeiter, angetan mit Lederschürze, ärmellangen Lederhandschuhen und flacher Lederkappe, Zigarette im Mund, selbstbewußt vor seiner mächtigen Maschine stehend. Vergleicht man das Bild mit Szenen vom elektronisch gesteuerten Produktionsablauf von Tesla-Elektroautos, so springt der radikale Unterschied zur heutigen Arbeitswelt ins Auge.
Das Bild gehört einer entschwundenen Zeit an. In der alten Bundesrepublik war es die Ära der vom Schock der Ölkrise 1973 sich dank Staatsverschuldung halbwegs erholenden Wirtschaft sowie der auf industriellen Fortschritt und wachsenden Wohlstand gegründeten Industriegesellschaft. Der von Theoretikern wie Jean Fourasié bereits in den fünfziger Jahren und von Daniel Bell 1973 diagnostizierte Strukturwandel zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft war noch nicht ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, schon gar nicht in die Köpfe der 68er.
68 veränderte auch die SPD
Die 68er hingen teils noch revolutionären, gewaltverherrlichenden Träumen nach, ehe sie im Zeichen der Antiatomkampagnen und der „Grenzen des Wachstums“ grüne Umweltthemen für sich und eine neue Partei entdeckten. Mit den Traditionen der alten Arbeiterbewegung hatten sie nichts im Sinn, auch wenn zuvor noch dieselben als maostische K-Grüppler vor Fabriktoren standen, um die Belegschaft mit Tiefdruckerzeugnissen für eine Neuauflage des Klassenkampfes zu gewinnen.
Andere 68er, oft bescheidenen Verhältnissen entstammend, schickten sich an, mit marxistisch eingefärbten, antikapitalistischen Doktrinen („Stamokap“), besser Phrasen, die SPD, die sich 1959 mit dem Godesberger Programm vom Marxismus verabschiedet und für bürgerliche Wähler geöffnet hatte, für politische Karrieren zu nutzen.
In ihrem voluminösen Werk – mit je dreißig Seiten Anmerkungen und Bibliographie, dazu ein zehnseitiges Personenregister – hat Brigitte Seebacher dem „Eroberungszug“ der „linken“ Nachkriegsgeneration ab 1968 ein ganzes Kapitel gewidmet. Als Protagonist des auf dem Parteitag zu Nürnberg im März 1968 inszenierten „Aufstands“ der Jungen gegen die alten „Anpasser“ agierte der 22jährige Oskar Lafontaine.
Deutsche Teilung? Desinteresse!
Für Lafontaine, der im deutschen Einheitsjahr 1990 durch ostentatives Desinteresse an der Wiedervereinigung Willy Brandt desavouierte und – sowohl am 18. März in der noch existierenden DDR und mehr noch bei den Bundestagswahlen im Dezember 1990 – die Wahlchancen der SPD ruinierte, hat die Autorin ebensowenig Sympathien wie für heute nur noch Parteihistorikern bekannte Namen wie Wolfgang Roth und Karsten Voigt. Sie alle erfreuten sich schon in den siebziger Jahren der Freundschaft mit dem FDJ-Sekretär Egon Krenz.
Es waren die Jahre, in denen nicht nur in der SPD die ehedem auf Überwindung des Status quo gerichteten Ziele der „Ostpolitik“ in Vergessenheit gerieten und sich ins Gegenteil – die Bejahung der deutschen Teilung im Zeichen von „Stabilität“ und Friedenssicherung – verkehrten. In bundesdeutschen Schulbüchern fungierte in allerlei „Systemvergleichen“ die bereits damals wirtschaftlich schwer angeschlagene DDR fern jeglicher Realität als moderner Industriestaat. Über Mauer und DDR-Knast sahen viele junge Sozialdemokraten – jetzt wieder „Genossen“ – hinweg.
Autorin Seebach fühlt sich Willy Brandts Erbe verpflichtet
Der Titel des Buches ist Programm: Die Sozialdemokratie, einst Speerspitze der seit der 1848er Revolution aus dem „Vierten Stand“ hervorgegangenen Arbeiterbewegung und Trägerin einer teils „wissenschaftlich“ fundierten, teils utopisch inspirierten Hoffnung auf eine „neue“, humanere Gesellschaft, ist an ihrem historischen Ende angelangt. Ihre eigene Position gegenüber der SPD – zugleich die Motivation für ihr Buch – erläutert Seebacher, über vierzehn Jahre liiert und verheiratet mit Willy Brandt, im Vorwort ihres Buches.
Als junge Gymnasiastin trat sie in Bremen nach einer begeisternden Wahlkampfrede Willy Brandts im September 1965 im Büro von Heini Landwehr, gelernter Buchdrucker und Ex-Kommunist, in die SPD ein. Im Sommer 1967 erlebte sie den Auftritt von Herbert Marcuse, assistiert von Rudi Dutschke, im Audimax der Freien Universität Berlin. Von der kollektiven Hysterie erschreckt, verließ sie „spießrutenlaufend“ den Hörsaal.
Der SPD war Patriotismus nicht schon immer fremd
Fortan verharrte sie auf dem rechten Flügel der SPD. Sie verließ die Partei, nachdem sie im März 1992 von Valentin Falin – immerhin Vertrauensmann Egon Bahrs – erfahren hatte, daß Parteisoldat Karl Wienand, als Adlatus von Herbert Wehner in allerlei sinistren Geschäften unterwegs, ein KGB-Offizier gewesen sei. Für Willy Brandt stand seither eine stets genährte Vermutung fest, daß auch Wehner über die Guillaume-Affäre im Bilde war. Brandts Biographie als linker – im skandinavischen Exil dem Klassenkampf entwöhnter – Sozialist unterschied sich grundsätzlich von der des vermeintlich ob seiner Verwicklungen in der Denunziationshölle des Moskauer Hotel Lux während der Stalinschen Säuberungen reuevoll bußfertigen Kader-Kommunisten Wehner.
Der linke Patriot Brandt, in Stockholm von Adam von Trott in die Widerstandspläne des 20. Juli eingeweiht, war gerade auch im Hinblick auf die „Ostpolitik“ von Motiven beseelt, in denen Freiheit, das Bild des „anderen Deutschland“, das Prinzip demokratischer Selbstbestimmung sowie einer am schwedischen „Volksheim“ orientierten Gesellschaft zusammenwirkten.
„Onkel Wehner“ verunglimpfte Brandt von Moskau aus
Dem in der Partei als „Onkel Herbert“ gefürchteten Wehner, der sich in der Rolle des humanitären Nothelfers gefiel, war Patriotismus, der auf die Überwindung der deutschen Teilung zielte, fremd. In eigener Regie pflegte er Kontakte zu Erich Honecker, seinem saarländischen Kampfgenossen von 1934. Im Oktober 1973, kaum waren die Ostverträge in Kraft, zog er von Moskau aus in schäbiger Diktion öffentlich über den Bundeskanzler Brandt her.
Als Seebacher nach einem von Wienand angestrengten Prozeß, der mangels schriftlichen Beweises mit einem Vergleich geendet hatte, von Seiten der Parteioberen – auch nach Auftauchen eines entsprechenden Vermerks von Brandt – keine Genugtuung erfuhr, trat sie aus der Partei aus. Dennoch: „Keine Abkehr von der Sozialdemokratie.“ Vermutlich verdankt das Buch sein Erscheinen im parteieigenen Dietz-Verlag diesem Bekenntnis.
Geschichte im Geiste der SPD
Ohne Frage sieht sich die Autorin, unter anderem Verfasserin einer Biographie von August Bebel, in der Tradition jener sozialdemokratischen Reformpartei, deren historischer Auftritt gewöhnlich mit Ferdinand Lassalle und dem in Leipzig 1863 gegründeten ADAV assoziiert wird. Zum Ausgangspunkt ihres Buches wählte Seebacher bewußt eine wenig bekannte Versammlung von Sozialdemokraten, Lassalleanern und marxistischen Bebelianern in Nürnberg 1868.
Von dort schlägt sie den Bogen zum Nürnberger Parteitag 1968, der „den Anfang vom Ende“ der SPD einleitete. Dazwischen präsentiert das Buch auf vielen hundert Seiten eine beeindruckende Gesamtgeschichte der – in ihrer Genese, ihren Ideologien, Spaltungen und Entwicklungen sehr unterschiedlichen – Parteien des europäischen Sozialismus („Jeder Weg ein Sonderweg“).
Die Rolle des in der Phase des Mauerfalls Status-quo-fixierten Egon Bahr sieht Seebacher kritisch. Auch ihr Urteil über Helmut Schmidt und dessen geschönte Vita („Der Soldat“) fällt ungnädig aus. Als spezielle Leseempfehlung inmitten des Konvoluts sei zuletzt auf die Kurzporträts der „Vier Enkel“ Brandts – Lafontaine, Rudolf Scharping, Björn Engholm und Gerhard Schröder – verwiesen. „Gerhard Schröder übertraf sie alle.“