Auch prosaische Menschen haben beim Anblick der brennenden Kathedrale Notre-Dame gespürt, daß es etwas Sakrales, Heiliges gibt und haben das Feuer instinktiv als ein Zeichen empfunden, welches vom maladen Zustand Europas kündet. Er währt schon lange. Die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel (1879 – 1964), der schon früh eine Sehergabe zugeschrieben wurde, verfaßte kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Verse:
„Wenn aus deinem First die Flammen steigen/ wird des weißen Mannes Welt entbrennen/ wenn sich deine Sonnenfahnen neigen/ sinkt die Nacht über das Abendland!“
Zerstörung des Königsberger Doms
Die eindrucksvollsten Bilder stammten, wie Karlheinz Weißmann hier schrieb, von den „Menschen, die auf die Katastrophe schauen und beten“, in ihrer „Hinwendung zu Gott, vor allem, wenn die eigene Macht nichts auszurichten vermag“. Unbeholfen wirkten die offiziellen Kommentatoren, die Notre-Dame zwar ein „Symbol der Geschichte“ nannten, ohne sich für die Geschichte zu interessieren, oder die sich ganz auf die Touristenattraktion und den Publikumsmagneten beschränkten, der nach dem Wiederaufbau mehr Besucherströme denn je anziehen wird.
Zurück zu Agnes Miegel, die im August 1944 die Zerstörung Königsbergs durch englische Bomben und das Abbrennen des Doms miterlebte wie heute die geschockten Pariser den Brand Notre-Dames. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in Bad Nenndorf in Niedersachsen. Antifaschistisch aufgepumpte Kleingeister sind damit beschäftigt, die neben Annette von Droste-Hülshoff größte deutsche Balladendichterin aus den Straßenverzeichnissen zu löschen.
In dem 1955 veröffentlichen Nachruf „Mein Dom“ hat sie in Worte gefaßt, wie der Kirchenbau die Geschichte und den Geist Ostpreußens in sich vereinte und seine Gegenwart ein Teil ihres Lebens war. Das Sakrale, Heilige und das Zeichenhafte seiner Zerstörung werden im Text zum Ereignis.
1914 war der Beginn des Verhängnisses
Am 1. Augst 1914 verkündeten die Glocken des Königsberger Doms den Beginn des Ersten Weltkriegs. Es war ein Klagegesang, der den Beginn des Verhängnisses einläutete, das sich 30 Jahre später vollendete. Davon handeln die letzten drei Absätze dieses so gegenwärtigen Aufsatzes. Mag sein Herz von ihnen rühren lassen, wer eines hat:
„Einmal noch, o mein Dom, habe ich dich so klagen hören (…) Aber kein Abendschein war es, der deine Backsteinwand aufglühen ließ, kein Kerzenglanz, der deine bunten Fenster erhellt – Feuer, das im Getöse der Apokalyptischen Reiter niederstürzte und deine Stadt vernichtete, ließ auch dich aufstrahlen in seiner Höllenglut.
Fern von dir, nahe dem Hufenbach, nahe den grünen Friedhöfen, wohnte ich. Und als ich dann endlich mit Nachbarn und Freunden hinauslief aus dem Keller in die plötzliche Stille, in der nun nur das Knistern zu hören war von Flammen und berstenden Mauern, da sahen wir erstarrt von Grauen, zu entsetzt, um zu weinen – nur den roten, aus Rauch und Gewölk widerstrahlenden Schein des Feuers, in dem unsere Stadt verging.
Und dann über dem Sausen, dem Knistern hörten wir den Todespsalm, den die Glocken der sterbenden Kirchen, geschwungen vom Feuersturm, dieser Stadt sangen. Und ich hörte, mit der Gewißheit, die Liebe gibt, aus dem Chor der zerschmelzenden Todvervallnen den Ruf deiner Glocken, mein Dom! Vaterstimme noch im Sterben trösten mit heiligem Spruch, hinweisend über Vergehn des Vergänglichen zu dem Ewigen, zu ‚dem bestirnten Himmel‘, der auch über diesen Brandwolken stand in aller Herrlichkeit der Augustnacht, so wie er heute steht über mir in dem erntemüden Land im Westen und über der leeren Totenstadt deiner Insel, über deinen geborstenen Mauern, mein Dom!“