Jede neue Meldung zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) vergrößert die Verwirrung. Was kann man noch glauben? Und wem? Und warum überhaupt? Behörden, Politik und Medien marschieren im Gleichschritt. Statt belastbarer Fakten ventilieren sie Affekte, und das mit einem klaren politischen Ziel.
Der NSU dient als Argument, um innenpolitisch Tabula rasa zu schaffen. So ist ein Zentralregister für „Rechtsextremisten“ eingerichtet worden – inzwischen ein beliebiger Begriff, der selbst auf Euro-Kritiker ausgedehnt werden kann.
In Wahrheit ist in der NSU-Affäre nichts gerichtsfest. Beate Zschäpe, die einzige Überlebende des Zwickauer Trios, sitzt seit einem Jahr schweigend in Untersuchungshaft. Trotz akribischer Untersuchungen, die absolute Priorität besitzen und Heerscharen von Ermittlungsbeamten und Staatsanwälten beschäftigen, konnte sie bislang nicht überführt werden. Mittlerweile hat Generalbundesanwalt Harald Range Anklage gegen Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer erhoben.
Journalisten als Pressesprecher der Behörden
Offenbar waren Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos von V-Leuten des Verfassungsschutzes geradezu umstellt. Zu welchem Zweck? Mit welchem Ergebnis? Der Inlandsgeheimdienst hat massenweise Akten geschreddert. Ersatzweise hat das von Beate Zschäpe in Brand gesteckte, inzwischen abgerissene Haus eine wahre Wunderasche hinterlassen, aus der massenweise Papiere, Disketten, Festplatten und spurenhaltige Kleidungsstücke geborgen wurden.
Zu den Asservaten gehören zwei Zeitungsausschnitte mit den Fingerabdrücken von Zschäpe. Die Artikel bezogen sich auf einen Sprengstoffanschlag in Köln sowie auf einen Mord in München. „Solche Artikel hatten Verwendung in einem Bekenner-Video gefunden, das Zschäpe nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt an 15 Adressen verschickt hatte“, weiß die Süddeutsche Zeitung zu berichten. Dort betätigt sich Hans Leyendecker, der gern den investigativen harten Hund mimt, quasi als Pressesprecher der Behörden.
Unter massiver Anteilnahme der Medien hatte die Spezialeinheit GSG 9 mehrere mutmaßliche Helfershelfer des Trios festgenommen. Bis auf eine Ausnahme mußten alle wieder freigelassen werden. Der einzige, der noch einsitzt, weil er die Tatwaffe besorgt haben soll – der ehemalige NPD-Mann Ralf Wohlleben – wird gleichfalls eine Vergangenheit als V-Mann nachgesagt. Kein Wunder, daß jenseits der offiziösen Nachrichtenströme viele Spekulationen zirkulieren.
Fehlende Distanz zur offiziellen Darstellung
Plötzlich erhalten die Schriften des französischen Medientheoretikers Jean Baudrillard eine furchteinflößende Aktualität, sind sie doch geeignet, Denkblockaden aufzusprengen. In den 1970er Jahren fragte er: „Ist ein Bombenattentat in Italien die Tat von Linksextremisten oder eine Provokation der extremen Rechten, ist es eine Inszenierung des Zentrums, um alle terroristischen Extremisten in Mißkredit zu bringen oder eine wacklige Macht herunterzumachen, oder handelt es sich um ein Polizei-Scenario und die Erpressung zur öffentlichen Sicherheit?“
Italienische Filmregisseure haben die Ereignisse, auf die Baudrillard sich bezog und die später unter dem Begriff „Strategie der Spannung“ zusammengefaßt wurden, zeitnah als Herausforderung begriffen. Es entstanden Kinofilme unter anderem von Damiano Damiani, in denen die Verquickung von Politik, Geheimdiensten und Justiz thematisiert wurden. Derartige Projekte würden in Deutschland schon an der Selbstzensur der Filmemacher, spätestens aber an den Richtlinien der Filmförderung scheitern.
Ähnliches gilt für die Medien. Sie verstehen sich mehrheitlich als Staatsorgane und sind bestrebt, sich als staatspolitisch wertvoll zu erweisen. Journalisten lassen jede professionelle und analytische Distanz zu den behördlichen Darstellungen vermissen. Statt die offerierte NSU-Theorie zu überprüfen, propagieren sie sie als unzweifelhafte Realität. Zu diesem Zweck ist stereotyp von der „Zwickauer Terrorzelle“, von den „Neonazi-Morden“, der „Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds“ usw. die Rede. So wird mittels Sprache eine politische Realität erschaffen.
NSU wird auf eine quasi-mythische Ebene transformiert
In der FAZ sah Peter Carstens mit den NSU-Enthüllungen eine „neue sicherheitspolitische Zeitrechnung in Deutschland“ anbrechen und zog ganz unironisch einen Vergleich zum 11. September. Nun greift der Fall tatsächlich über die operative Politik weit hinaus. Der NSU wird auf eine quasi-mythische Ebene transformiert und dazu genutzt, den zivilreligiösen Holocaustbezug um das Element des Multikulturalismus zu ergänzen.
Gleich im November 2011 legte der Bundestag eine Gedenkminute für die Mordopfer ein, und die Kanzlerin sprach von einer „Schande für Deutschland“. Auf der zentralen Gedenkfeier im Februar 2012 wurden die Opfer der Mordserie faktisch als Blutzeugen und Stifter eines neuen Gründungsmythos geheiligt. Zu diesem Zweck wurden für die zehn Toten zwölf Kerzen entzündet.
Zwölf ist in der griechischen Mythologie und im christlich-jüdischen Religionskreis eine magische Zahl, die Zahl der Vollkommenheit. Das himmlische Jerusalem, das in der Offenbarung des Johannes auf die Apokalypse folgt, hat zwölf Tore, die die Namen von zwölf Engeln tragen. Die zwölf Grundsteine seiner Mauer sind aus zwölf verschiedenen Edelsteinen gefertigt, und sie tragen die Namen der zwölf Apostel des Lammes.
Purer Edelkitsch
FAZ-Redakteur Christian Geyer floß bei dem Versuch, aus der sakralen Inszenierung die politische Moral und Nutzanwendung abzuleiten, purer Edelkitsch aus der Feder: „Die elfte Kerze war allen bekannten und unbekannten Opfern rechtsextremistischer Gewalt gewidmet, und erst die zwölfte stand, wenn man so will, für die freiheitlich-demokratische Gesamtgesellschaft: als ‘Hoffnung für die Zukunft’.“ Wenn man so will! Sein Kollege Hefty nannte die Gedenkstunde einen „Markstein im Zusammenwachsen der Bevölkerung Deutschlands“.
War sie das? Wo Kitsch auf die Politik übertragen wird, nimmt er totalitäre Züge an! Die NSU-Affäre könnte sich durchaus als Komplementär-Stück zur putschartigen Euro-Rettung erweisen, das den institutionellen Umbau Deutschlands – die Errichtung der Eurokratur – durch die gesellschaftspolitische und ethnische Umdefinition ergänzt. Ein Platz in Kassel hat den Namen eines mutmaßlichen NSU-Mordopfers erhalten, er heißt jetzt „Halit-Yozgat-Platz“. Hinter solche harten Fakten können Ermittlungsbehörden und Gerichtsinstanzen nur schwer wieder zurück.
JF 46/12