Arnulf Barings wichtigstes Medium ist seit Jahren das Fernsehen, und er geniert sich nicht dafür, im Gegenteil: Die Zuschauer erleben ihn hellwach, kenntnisreich, schlagfertig, temperamentvoll, nötigenfalls angriffslustig, als leidenschaftlichen Citoyen. An so einen muß Hannah Arendt gedacht haben, als sie über öffentliches Handeln und von der Begeisterung schrieb, die ein Gemeinwesen am Leben erhalten.
Baring wurde 1932 in Dresden geboren. Beheimatet ist er in Berlin. Er studierte Jura und Politische Wissenschaften, er forschte und lehrte in Deutschland, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten, am längsten als Professor an der Freien Universität Berlin. Sein Interesse gilt der Politik und Zeitgeschichte. Er schrieb ein erstes Standardwerk über den 17. Juni 1953 sowie Bücher zu aktuellen Fragen der Innen- und Außenpolitik.
Das Buch „Machtwechsel“, das 1982 erschien, ist sein wohl wichtigstes Werk. Es handelt von der Ablösung der CDU/CSU in der Regierungsverantwortung durch die SPD 1969, mit der die neue Ostpolitik, die Verständigung mit der Sowjetunion, Polen und der DDR, begann. Baring entwirft darin eine Geschichte und zugleich ein Psychogramm der Bundesrepublik.
Einblicke in den Politikbetrieb
Er verfügt über die unter Historikern seltene Begabung zum plastischen Erzählen, zur Verlebendigung des Personals und der Atmosphäre. Nützlich waren ihm auch seine Einblicke in den Politikbetrieb, die er während der Tätigkeit im Bundespräsidialamt von 1976 bis 1979 gewonnen hatte. Vielleicht handelt es sich bei „Machtwechsel“ sogar um den repräsentativen Bonn-Roman der konsolidierten Bundesrepublik, an dem Heinrich Böll zur gleichen Zeit scheiterte.
Nun zählen Politikwissenschaft und Zeitgeschichte in der Regel zu den „Legitimationswissenschaften (Stefan Scheil), denen die Aufgabe zufällt, die praktische und theoretische Festlegung der Bundesrepublik auf die amerikanische Globalpolitik zu begründen. Nun, auch Baring ist ein bekennender Transatlantiker. Henry Kissinger, die Eminenz der amerikanischen Außenpolitik vermittelte ihm sogar einen Forschungsaufenthalt am Center for International Affairs der Harvard-Universität.
Doch ist der Proamerikanismus für Baring kein Glaubenssatz, sondern das Ergebnis von Abwägungen. Er nennt sehr präzise Gründe dafür, politische Gründe, keine emotionalen. Deutschland sei überhaupt nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen, und die USA, was immer sich gegen sie sagen ließe, erhielten nun mal die Weltordnung aufrecht, in der Deutschland seinen Handel betreiben und seinen Wohlstand erwirtschaften könne.
Baring beschäftigen die Machtfragen
Für die USA sei Deutschland ein hochinteressanter Partner, aufgrund des Größenunterschiedes aber kein wirklicher Konkurrent. Deshalb sei keine Eifersucht von dort zu erwarten, anders als von Frankreich und Großbritannien, und seien die Beziehungen zu Washington wichtiger als die nach Paris.
Baring gehört zu den wenigen akademischen Köpfen in Deutschland, die sich mit Machtfragen beschäftigen. Immer wieder hat er die deutsche Unfähigkeit kritisiert, eine kohärente Außenpolitik zu entwickeln. Er verabscheut Leerformeln von der Sorte: Man wolle keine neuen Mauern errichten, oder: Von deutschem Boden dürfe nur Frieden ausgehen, und hat sie bissig kommentiert.
Bundespräsident Köhler trat 2010 zurück, nachdem seine Bemerkung, Deutschland könne eines Tages gezwungen sein, seine internationalen Handelswege militärisch zu sichern, einen Mediensturm auslöste. Baring hatte schon 1991 die Frage aufgeworfen, was Deutschland eigentlich zu tun gedenke, sollten eines Tages seine Handelsschiffe gekapert werden. Sein über 20 Jahre altes Buch „Deutschland, was nun?“ wirkt, als sei es erst gestern geschrieben. Häufig muß ihn das Gefühl beschleichen, sich in einer Zeitschleife zu bewegen.
Verantwortungs- statt Gesinnungsethiker
In einem spektakulären Zeitungsartikel rief er 2002 die Bürger auf, die Barrikaden zu erklettern und die politische Klasse daran zu hindern, das Land zu zerstören. Doch die Bürgerrechtsbewegung, auf die er hoffte, blieb aus. Die 14 Prozent der Wählerstimmen, welche die FDP 2009 bei den Bundestagswahlen erzielte, und der Einzug Guido Westerwelles ins Auswärtige Amt jedenfalls erwiesen sich nur als die Karikatur einer bürgerlichen Revolte. Man muß sich wundern, daß Baring über all dem nie zum Zyniker geworden ist.
Es gibt Kritiker, die werfen Baring mangelnden Bekennermut vor. Doch das ist falsch, denn den hat er reichlich bewiesen. Seine Leidenschaft täuscht nicht darüber hinweg, daß er dem Verantwortungs- vor dem Gesinnungsethiker den Vorzug gibt.
Am 8. Mai wird dieses blitzgescheite Temperamentbündel 80 Jahre alt. Es ist nicht zu glauben!