Von den über hundert künstlerischen Handpuppenbühnen, die es 1930 im Deutschen Reich gab, befanden sich allein in Dresden mehr als zehn. Neben den Kunsthandwerkern gestalteten auch bedeutende Bildende Künstler wie Otto Griebel und Reinhold Langner Figuren. Die Dresdner Puppentheatersammlung gründet auf der ältesten privaten Puppenspielsammlung Deutschlands. 1952 wurde sie verstaatlicht und ist heute neben so einzigartigen Einrichtungen wie der Gemäldegalerie und dem Grünen Gewölbe Bestandteil der Staatlichen Kunstsammlungen. Depot und Verwaltung befinden sich in der Garnisonkirche in der Albertstadt. Im Jägerhof, dem Gebäude des Volkskunstmuseums, ist nun im Obergeschoß die Ausstellung „Kasper – Eine deutsche Karriere“ zu sehen.
Mit dem verdienstvollen Gründer des Dresdner Volkskunstmuseums, Oskar Seyffert, war der Leipziger Puppenspieler Arthur Ganzauge befreundet. Er spielte auf der Dresdner Vogelwiese und fertigte Puppen für die Sammlung. Traditionsreiche Wandermarionetten-Theater gastierten bis in die achtziger Jahre mit ernsthafter Dramatik für Erwachsene in den Gasthaussälen des Dresdner Umlands. Die Puppenbühne Ritscher hatte zwei Kasper-Figuren im Einsatz, eine nachmittags für die Kinder und eine für die Abendvorstellung. „Stülpner Karl“, „Die schöne Genovefa“, „Doktor Faustus“ und „Der Altenburger Prinzenraub“ bekamen eine echte Chance gegen das Fernsehen.
Im „Tal der Ahnungslosen“, wie das Dresdner Elbtal mangels Empfangsmöglichkeiten von Programmen der ARD und des ZDF spöttisch benannt wurde, wurden so Ahnungen von der ewig jungen Kraft des Theaters geweckt und wach erhalten. Johann Wolfgang Goethe, Richard Wagner und Heinrich von Kleist sinnierten angesichts dieser Stücke einst über die Möglichkeiten einer wirkungsvollen Dramatik.
Zu einer Art Schwanengesang dieser alten Tradition wurde der große Unima-Kongreß (Union Internationale de la Marionette) in den achtziger Jahren. Puppenspieler aus allen Ländern verwandelten die Innenstadt für Tage in eine große Bühne. Kasper begrüßte seine Kollegen Petruschka, Vasilache, Guignol und Punch.
Der Harlekin wurde 1737 in Leipzig öffentlich verbrannt
Mit der abendländischen Wiedergeburt des Theaters erwachte auch der Vorfahr des Kaspers zum Leben. Ende des 16. Jahrhunderts bedienten sich wandernde englische Komödianten einer komischen Figur, um dem deutschen Publikum die Handlung zu erhellen.
Als Abkömmling dieses Gesellen warb hundert Jahre später in Süddeutschland Hanswurst und im Norden Pickelhäring um die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Der Klassizist und Kunstpurist Johann Christoph Gottsched (1700–1766) mochte die übermütigen Possen auf einer gereinigten Bühne nicht länger dulden. Auf sein Betreiben wurde der Harlekin 1737 von der Schauspieldirektorin Karoline Neuber in Leipzig öffentlich verbrannt.
Bis 1800 war die Austreibung des Possenreißers vollzogen. Als Kasperle fand er Zuflucht bei den verachteten Puppenspielern. In seiner Novelle „Pole Poppenspäler“ beschreibt Theodor Storm den Kasper als Spielmagier und Entführer in eine Überwirklichkeit. Als dessen Verwandten läßt sich in der Ausstellung ein Riesen-Kasper mit rollbaren Augen und klappendem Kiefer entdecken, dessen Aufgabe die Anlockung des Publikums war, bevor sein kleinerer Bruder das eigentliche Spiel eröffnete.
Aber auch die Puppenbühne wurde erst von den Reinigern des Kunsttempels erfaßt und später von den Agitatoren. Von allen Seiten verschlimmbesserte man den facettenreichen Kasper und schämte sich für die nutzlosen, fiesen Züge, vom leichtfertigen Totschläger, dummdreisten Opportunisten, subalternen Schlingel oder charakterlosen Kommentator. Schon 1933 setzte eine Nasenbegradigung beim Kasper an. In einem propagandistischen Spiel mit ätzenden Kommentaren zum Völkerbund, jüdischen Unternehmern und verbürgerlichten Schulmeistern konnte sich der derb-naive Kasper als deutscher Michel gegen Samuel Märchenreich und Ephraim Kohn abheben.
Der Architekt Carlo Böcklin, Sohn des Malers Arnold Böcklin, lebte in Italien, wo er für Alt und Jung die Puppen bewegte. Er nahm dem Kasper mit der Pritsche das Aggressionsverhalten und machte ihn zum „Mammoni“, der bei der Großmutter wohnt, die er vor dem bösen Tod beschützt. Den Briganten Balthasar sperrt er ins Haus, das er gesamt auf die Polizeiwache trägt. Böcklins Puppen wurden in Serie gefertigt. Avenarius erwähnte sie lobend im „Kunstwart“.
Kasperhafte Züge verdichten sich im wackeren Schildknappen Sancho Pansa, der von der Statthalterschaft über eine Insel träumt, Doktor Fausts Famulus Wagner oder dem leichtsinnigen Papageno in der „Zauberflöte“. Die Figuren dazu wurden 1950 in Hohnstein in der Sächsischen Schweiz gefertigt, Gretel und Kasper sind das gefiederte Paar. Dem Stück wurde damals die Aufführungsgenehmigung versagt, und es wurde nie gespielt.
Puppen von der Ostfront, gefertigt aus Aststücken
Heute beeindrucken die Figuren den Besucher in der Vitrine. Das Städtchen Hohnstein hatte große Bedeutung für die Renaissance des Puppentheaters und die Wandlung der Kasper-Figur. Nach 1945 verließen die Puppenspieler den Ort in Richtung Westen. Die Werkstätten verblieben. Doch die Berufsspieler wurden beeinflußt, nicht mit deren Figuren zu arbeiten.
Am 7. Dezember 1937 erlebte in der Handelsbörse am Leipziger Naschmarkt das Stück „Kasper stirbt nicht“ seine Uraufführung. Goethe, der dem volkstümlichen Spiel viele Anregungen verdankt, steht als Frankfurter Student vor der Börse. In seinem Rücken wurden die als „Attentat“ bezeichneten Unfreundlichkeiten gegegenüber Professor Gottsched nachgestellt. Der Widersacher und Student in diesem Puppenspiel hieß damals allerdings: Lessing. Figuren, Premierenanschlag und Handzettel werden neben vielen anderen Stücken in der Ausstellung präsentiert.
Reformbewegungen nutzen die Puppen für erzieherische Aufgaben. Gleichermaßen stilisiert und schematisch sind die Figuren, die der Leiter der Industrieschule im Thüringischen Sonneberg Carl Staudinger für die Berliner Werkfreunde GmbH entwarf, wie die Waldorf-Puppen mit ihren hohläugigen Relief-Schädeln. Eindrucksvoll und dicht, wie es nur die Not erzeugt, sind provisorische Puppen von der Ostfront (1915/18), gefertigt aus Aststücken, bekleidet mit Taschentüchern. Der Kasper verfügt über ein bewegliches Geschlechtsteil.
Neuerdings beginnt sich das Puppenspiel vereinzelt wieder aus dem Museum zu eigenem Leben zu erheben. Spektakuläre Aufführungsorte wie unterirdische Bergwerkshallen und mittelalterliche Ruinen tragen ebenso dazu bei wie der Wunsch, sich von Kaspers bunter Pritsche das dumme, komplizierte Sorgen-Krokodil tothauen zu lassen. Ein übriges bewirkt das Interesse am heimatlichen Sagenschatz. Im Kalkbergwerk Miltitz bei Meißen spielte vergangenes Frühjahr das Wandermarionetten-Theater Dombrowsky vor ausverkaufter Höhle die Abendveranstaltung „Die Teufelsmühle von Koselitz“. Es stimmt wohl: Kasper stirbt nie!
Die Ausstellung „Kasper – eine deutsche Karriere“ ist bis zum 31. Januar im Dresdner Museum für Sächsische Volkskunst mit Puppentheatersammlung, Köpckestraße 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon: 03 51 / 49 14 20 00
Foto: Kasper mit den höllischen Furien, Handpuppen für „Das Puppenspiel vom Dr. Faustus“, 1968; Kasper, um 1946/49; Paradekasper mit beweglichem Mund: Neues Interesse am Sagenschatz