Fast dreißig Jahre nach Erscheinen von Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) offenbart sich, wie wenig die Vorstellung einer durch einen freiheitlichen und gleichberechtigten Diskurs hervorzubringenden Wahrheit und Gerechtigkeit mit der Wirklichkeit hierzulande zu tun hat. Die Überspanntheit des Anspruchs könnte auch mit einem Aphorismus Michael Klonovskys umschrieben werden, dem zufolge Habermas’ Werk bekanntlich in alle Sprachen übersetzt worden sei – außer ins Deutsche.
Nicht zuletzt hatte der französische Philosoph Jean-François Lyotard erkannt, daß es keinen integrierenden „Metadiskurs“ gebe. Habermas’ Theorie erscheint demzufolge als eine „inkommensurable Vernunftart“. Wie auch der Marxismus sei sie eine „Vereinheitlichungstheorie“, die mit der Wirklichkeit nicht in Übereinstimmung gebracht werden könne, da jene durch „unübersetzbare Diskurse“ gekennzeichnet sei.
Selten war die Distanz zur Wirklichkeit größer
Besonders deutlich zeigt sich dieser Konflikt in der aktuellen Debatte über Islamismus und anwachsende Parallelgesellschaften. Was tun, wenn diese Phänomene sich dem – ohnehin unverbindlichen – Diskursverfahren verweigern? Aus Sicht des linksliberalen Feuilletons gibt es da nur einen Ausweg: nämlich die kommunikative Anpassungsleistung an jenes neue Bedrohungsszenario, das in der eigenen Realität nicht vorgesehen war. Also flüchten Feuilleton-Köpfe wie Andrian Kreye (Süddeutsche Zeitung) oder Claudius Seidl (Frankfurter Allgemien Sonntagszeitung) in den „mentalen Panikraum“, wie es die Soziologin Necla Kelek nennt (JF 3/10).
Jüngst lieferte Thomas Steinfeld von der Süddeutschen in seinem Beitrag „Unsere Haßprediger“ (14. Januar) ein beredtes Beispiel für die dialektische Selbstverneinung. Dieser Text sollte in den Geschichtsbüchern nachkommender Generationen unbedingt präsentiert werden – dokumentiert er doch in beklemmender Weise ein vorauseilendes Verständnis für die islamische Parallelgesellschaft, während „Islamkritik“ und „westliche Werte“ in Gänsefüßchen erscheinen. Denn die Beschwörung der westlichen Werte bringe ihre eigenen Haßprediger hervor, so etwa Necla Kelek oder Henryk M. Broder.
Wer den westlichen Lebensstil verteidigen will, wird von Steinfeld als „Fundamentalist“ denunziert, denn „er sucht den Krieg“. Schließlich erdreistet sich Steinfeld zu der Frage, wie die Islam-„Kritikerin“ Kelek säkular sein könne, da sie doch „in abweichenden religiösen Sitten eine Herausforderung der westlichen Gesellschaften erkennt“. Die Verlogenheit von Steinfelds Toleranz-Forderung erweist sich darin, daß diese bei den Islamkritikern aufhört.
Ein weiterer Habermas-Adept, der glaubt, mit dem diskursiven Kommunikationsmuster die Wirklichkeit geregelt zu bekommen, ist Patrick Bahners, Feuilletonchef der FAZ. In der Katholischen Akademie Berlin erlebte das Publikum vorigen Donnerstag eine unglaubliche Praxisstunde im „mentalen Panikraum“. In seinem Vortrag über „Das Tabu, das gebrochen werden muß – Enthemmung als Debattenstrategie“ zelebrierte Bahners ein Wortgedrechsel, das nur auf eine Weise zu deuten ist: als eine Theorie des kommunikativen Wandel(n)s. Denn das gespreizte Reflexionsgetriebe erscheint am Ende doch nur als der Tanz einer Pirouette im Elfenbeinturm. Selten war die Distanz zur Wirklichkeit größer als an diesem Abend.
Auf die nur mehr rhetorisch gemeinte Frage, wer denn in ein allfälliges Mahnmal für die Opfer der Meinungsfreiheit gemeißelt werden müßte, fiel einzig der Name Ernst Nolte, wenngleich dieser nicht ganz unschuldig an der Situation sei durch seine „teilweise Selbstausschließung“. Genannt wurde auch ein „Politiker aus Thüringen“, der wegen der Tätigkeit „für eine bestimmte Zeitung“ kein Ministeramt antreten durfte, obwohl man ihm nichts vorwerfen konnte. Immerhin wagte Bahners die Frage, ob es wirklich sinnvoll sei, die Leugnung des Holocaust rechtlich zu ahnden. Der soziale Ausschluß sei doch womöglich hinreichend.
„Die Sphäre von Takt und Ton durchstoßen“
In dem Interview des Bundesbankvorstands und früheren Berliner SPD-Finanzsenators Thilo Sarrazin mit der Kulturzeitschrift Lettre International sieht Bahners einen Tabubruch, der im Namen des Widerstands gegen die politische Korrektheit propagiert werde – und damit unheilvoll wirke. Denn „gesamtgesellschaftliche Tabus gibt es nicht“, so Bahners. Einzige Ausnahme sei „nur der Selbstmord des Vetters auf dem Familientreffen, der nicht angesprochen wird“. Dementsprechend wird das Aufkommen einer totalen „Tabulosigkeit“ insinuiert, die nichts anderes sei „die Verbreitung der Pornographie“.
Entsprechend prangert Bahners jene an, die das Kopftuch als „erklärungsbedürftiges Zeichen“ stigmatisieren. Die einschlägige Debatte habe „die Integrationsbemühungen nachhaltig gestört“. Denn hier, so Bahners’ kühne Folgerung, äußerten sich „Schamlosigkeit, Zudringlichkeit und religiöse Inquisition“. Es ist ein Verständnis, das sich von dem des Wahabbismus, wie ihn in Deutschland der islamistische Prediger Pierre Vogel vertritt, wohl kaum unterscheiden dürfte.
Von Sarrazin über Necla Kelek, das Internetportal Politcally Incorrect und die Achse der Guten bis hin zu Cicero und Springers Welt gebe es eine verbindende Logik, ein „beunruhigendes Prinzip der Überbietung auf das nächstniedere Niveau“. Es sei der „Mechanismus einer vorauseilenden Aufklärung, die alles schlimmer macht“. Sie verweise auf die „Milieumobilmachung“ im Deutschen Kaiserreich. So habe sich um Sarrazin, der eine „Biopolitik“ vertrete und „Größenwahn“ zeige, in erstaunlich schneller Zeit „eine Gemeinde gebildet“. Auf einem entsprechenden Altarbild „müßte man den Heiligen Thilo“ als denjenigen „darstellen, der seine abgeschnittene Zunge in der Hand hält“. Die Genannten hätten mit ihren bewußten Provokationen „die Sphäre von Takt und Ton durchstoßen“, so Bahners’ Fazit.
Diese „Ventilfunktion“ sei in der Geschichte der Bundesrepublik etwas Neues – und Schlimmes: Denn sie verweise auf die „Weltanschauung vor hundert Jahren“ und den darauf folgenden „Zivilisationsbruch“. Ganz anders dagegen ist Bahners’ Sicht auf die Teilnehmer an der Islamkonferenz, die sich weigerten, ihre Unterschrift unter eine Erklärung zu setzen, die sich zu den Werten des Grundgesetzes bekennt. Schließlich, so Bahners, solle man die türkischen Zuwanderer „nicht noch mit dem deutschen Geschichtsbild belasten, die haben bereits ihren eigenen Rucksack“.
Was sich hier offenbart, ist die kaum verklausulierte Form der Kapitulation. Um so absurder erscheint Bahners’ selbstreflexives Fazit, dem zufolge es gut sein könne, „daß es einen viel schneller ereilt, für seine Werte kämpfen zu müssen, als man bislang geglaubt hat“. Am Ende demonstrieren Bahners & Co. somit nur eines: die Theorie des kommunikativen Ablaßhandels.
Im Wortlaut: „Ich habe den Eindruck, daß die Zivilcourage des nicht angepaßten Urteils in Deutschland ein immer knapperes Gut wird. Hätten wir je wieder eine Diktatur in Deutschland – an überangepaßten Opportunisten würde es sicherlich nicht mangeln.“
Thilo Sarrazin, Was sich kaum noch jemand sagen traut, im soeben erschienenen „Bild“-Jahrbuch 2009
Foto: Thilo Sarrazin (2009): Was tun, wenn Phänomene wie Islamismus und Parallelgesellschaften sich dem Diskursverfahren verweigern?