Ich will versuchen, Ihnen meine Haltung zu den Bühnen- und Filmrechten für ‘The Catcher in the Rye’ zu erläutern. Ich muß diesen Vers nicht zum ersten Mal aufsagen, also bemühen Sie sich bitte um Nachsicht, wenn ich ein wenig lustlos wirke“, schlug J. D. Salinger 1957 eine entsprechende Anfrage ab. „Natürlich könnte man viele Gedanken des Ich-Erzählers in Dialoge zwingen – oder in irgendeine Art laut gesprochenen inneren Monolog –, aber zwingen ist genau das richtige Wort. Was er im Roman in seiner Einsamkeit ganz natürlich denkt und tut, ließe sich auf der Bühne höchstens pseudo-simulieren, wenn ein solches Wort existiert (was ich nicht hoffen will) … Holden Caulfield selbst ist meiner zweifelsohne total voreingenommenen Meinung nach im Grunde nicht schauspielerisch darstellbar. Ein Einfühlsamer, Intelligenter, Talentierter Junger Schauspieler in einem Wendemantel wäre der Rolle nicht im entferntesten gewachsen.“
Eigentlich schade, daß der mittlerweile zum Zen-Buddhismus bekehrte und in die ländliche Abgeschiedenheit geflohene Eigenbrötler einen anderen Mißbrauch seines frühen und einzigen Meisterwerks nicht unterbinden konnte. Denn der sechzehnjährige Holden Caulfield ist keine Fallstudie des mißverstandenen, entfremdeten Jugendlichen an sich, zu der er im gymnasialen Englischunterricht mit seinen Lernzielen und Diskussionsthemen allzu schnell mutiert. Er ist ein Einzelner im existentiell emphatischen Sinne, ein – freilich fiktiver, stilisierter – Vereinzelter, der an seiner Vereinzelung leidet und in seinem Leid daran schwelgt: wie Millionen real existierende Jugendliche überall und jederzeit.
Die drei Tage, die er – fluchend und betrunken, dabei sprachgewaltig im Rausch einer so schonungslosen Ernüchterung, wie sie nur Sechzehnjährige fühlen – in New York und der Leser in seinem Kopf verbringt, sind eine Erfahrung, die Generationen von Sprößlingen des Bildungsbürgertums nachhaltig geprägt haben. Auch Charles Manson, der Lennon-Mörder Mark David Chapman sowie zahlreiche weitere prominente Gewaltverbrecher wähnten sich angeblich als „Fänger im Roggen“, jene nicht ganz geheure Gestalt eines Beschützers der kleinen Kinder, die Holden sich aus einem Reim des schottischen Nationaldichters Robert Burns erspinnt.
Während seine Altersgenossen muskulöse, mannhafte Prosa absonderten – „zuviel von der Kraft, Reife und handwerklichen Technik, die den Kritikern gefällt, und nicht genug der glorreichen Makel, die knapp am Abgrund vorbei aus den besten Köpfen stürzen“ –, befürchtete der gerade aus dem Zweiten Weltkrieg nach New York heimgekehrte Salinger, er sei „ein Sprinter und kein Langstreckenläufer, und wahrscheinlich werde ich nie einen Roman schreiben“. Als brillanten Mittelstreckler weist ihn das Lieblingsbuch aller Träumer und Grübler zwischen Trotzalter und Midlife-Crisis, das er neben Kurzgeschichten und Novellen dann doch noch schrieb, allemal aus.
Holdens Stimme, die das prüde Amerika damals schockierte, klingt heute fast so frech und frisch wie 1951 – zumal deutschsprachige Leser bis vor kurzem mit der behäbigen Übersetzung von Heinrich Böll vorliebnehmen mußten. Erst 2003 kam Eike Schönfelds rundumerneuerte und prompt preisgekrönte Fassung auf den Markt, ein spätes Geschenk zum fünfzigjährigen Jubiläum von Salingers längst kanonisierter Polemik wider die Vereinnahmung und den Verlust der Unschuld.
Die Veröffentlichung einer sechzig Jahre später spielenden Fortsetzung aus der Feder eines schwedischen Autors verhinderte Salinger im Juli 2009 per Gerichtsbeschluß: Holden bleibt für immer sechzehn; erwachsen braucht er nie zu werden, geschweige denn Kompromisse mit dem falschen Leben zu schließen, das sein Schöpfer so sehr verabscheute. Daß es auf der anderen Seite weniger verlogen zugeht, möchte man dem vergangene Woche mit 91 Jahren in Cornish/New Hampshire Verstorbenen jedenfalls wünschen.
Jerome D. Salinger: Der Fänger im Roggen. Deutsch von Eike Schönfeld, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, gebunden, 268 Seiten, 15 Euro
Foto: Jerome David Salinger (undatierte Aufnahme); Erstausgabe „The Catcher in the Rye“ (Der Fänger im Roggen) von 1951: Die Literaturwelt wartet gespannt auf den Nachlaß des Kultautors, der zuletzt 1963 einen Band mit zwei Novellen und 1965 eine Kurzgeschichte im „New Yorker“ veröffentlichte, aber laut Auskunft seiner Tochter Margaret bis an sein Lebensende täglich schrieb