Der am letzten Oktobertag in Paris verstorbene Ethnologe Claude Lévy-Strauss (1908–2009), ein exquisiter Gelehrter und faszinierender Schriftsteller, wird möglicherweise als der Max Planck der anthropologischen Feldforschung in die Geschichte eingehen. Genau wie einst Planck in die Physik war er voller Tatendrang in die von ihm studierte und geliebte Ethnologie eingestiegen, um sie gewissermaßen zu vollenden, ihr gleichsam den Eckstein einzuziehen. Aber was er schuf, war genau das Gegenteil davon: Lévy-Strauss brachte das Gebäude der klassischen Ethnologie zum Einsturz, verwandelte sämtliche Grundsätze des Fachs in bloße Glaubenssätze, denen zudem ein Ruch von Anmaßung und Zerstörerlust anhaftete.
Bei Planck hieß das Schlüsselwort der ungewollten Katastrophe, nach der es in der Physik nur noch Wahrscheinlichkeiten, keine Wahrheiten mehr gab, „Wirkungsquantum“. Bei Lévy-Strauss hieß es „Wildes Denken“. Es gab, so erkannte er, beim Erforschen fremder, nach damaliger Auffassung „primitiver“, Kulturen kein wissenschaftliches Instrumentarium, mit dessen Hilfe man die Strukturen der betreffenden Kultur offenlegen konnte, sondern just diese Wissenschaft warf einen dichten Schleier über den Forschungsgegenstand, machte ihn undurchschaubar, verfälschte die Tatbestände.
Und schlimmer noch: Die wissenschaftliche Ethnologie verhüllte das wilde Denken nicht nur, sondern zerstörte es regelrecht, trug jedenfalls kräftig zur zivilisatorischen Zerstörung seiner kulturellen Grundlagen bei. Für diesen Vorgang hat Lévy-Strauss ein weiteres Epochenwort gefunden, „Traurige Tropen“, der Titel seines Berichts über brasilianische Erfahrungen aus dem Jahre 1955. Die „Traurigen Tropen“ beschreiben unvergeßlich das Resultat jenes schier wahnwitzigen Zusammenspiels aus arrogantem „Erforschen“ und technischem „Fortschritt“, das soviel Gleichmacherei, Vermassung und Entdifferenzierung über die Menschheit gebracht hat.
Seit Lévy-Strauss kann ethnologische Feldforschung nur noch mit schlechtem Gewissen betrieben werden. Selbst den pausbackigsten Forschern muß nun, nach Lektüre seiner Bücher, klargeworden sein, daß sie Forschungen an einem todkranken, unheilbaren Patienten betreiben und daß ihre Forschungen zu dessen Ableben beitragen. Lévy-Strauss selbst hat sich früh aus der akademischen, aggressiv befragenden und ungeniert experimentierenden Feldforschung zurückgezogen. Seine Methoden beschränkten sich bis zuletzt auf gründliche Sprachstudien, intensives Zuhören und bedachtsames interkulturelles Vergleichen.
Er war davon überzeugt, daß eine Formel für „wildes“, also originäres Denken, das sowohl Mythenglauben wie Begrifflichkeit einschlösse, eine ganz, ganz enge Synthese aus Sprache und existentieller, biologischer Überlebensstrategie abspiegeln müßte. Planck hatte seinerzeit die Lichtfrequenz v mit dem allgegenwärtigen natürlichen Wirkungsquantum h multipliziert. Lévy-Strauss hätte am liebsten die kulturelle Frequenz k mit einem linguistisch-biologischen Wirkungsquantum ü multipliziert. Glücklicherweise ließ er das sein und schrieb statt dessen seine Bücher, in denen das gemeinte Mädchen wenn nicht mathematisch-strukturell, so doch um so plastischer hervortrat.
„Vom Honig zur Asche“, „Das Rohe und das Gekochte“, „Der nackte Mensch“, „Der Weg der Masken“ – so und ähnlich lauten die appetitmachenden Titel über den Büchern von Lévy-Strauss, und von keinem wird man enttäuscht. Die ihnen zugrunde liegende Methode ist eher indianerhafte Spurensuche denn mathematisches Kalkül, eben „wildes Denken“, und so hat sie Lévy-Strauss auch verstanden. Ihm war die Einordnung als „Strukturalist“, die der Zeitgeist ihm angedeihen ließ, recht unangenehm. Zwar glaubte er, wie jeder Gelehrte, an Strukturen, aber diese lagen seiner Überzeugung nach nicht irgendwie „hinter“ den kulturellen Vorgängen, sondern waren identisch mit ihnen und konnten nur hervortreten, indem man sie so konkret wie möglich benannte.
Wie seinerzeit Max Planck unter seiner Entdeckung der Quantenphysik, so hat auch Lévy-Strauss unter der von ihm gemachten Entdeckung des Wilden Denkens sehr gelitten. Zunächst schien es, als würde er sich – angesichts der kulturellen Verheerungen, die die abendländische Wissenschafts- und Technikmethode überall angerichtet hatte – auch im Moralischen vom Abendland abwenden und sich jenen linken Kulturkritikern anschließen, die „den Westen“ pauschal und generell für alle Übel der Welt verantwortlich machen.
Zum billigen Polemiker taugte er zwar nie, wollte weder mit Hunden heulen noch mit kapitolinischen Gänsen schnattern. Doch die permanente Verschmutzung der Umwelt und die allgegenwärtige Mechanisierung der Seelen, die die Ausbreitung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation unübersehbar und unüberhörbar begleiteten, verdüsterten seine Horizonte. Er sah keinen Ausweg mehr, glaubte prinzipiell nicht daran, daß sich die wissenschaftlich-technische „Begriffskultur“ je wieder in Natur und Spontaneität würde zurückführen lassen.
Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, das galt auch für den alten Lévy-Strauss. Er hatte sich sein Leben lang für bedrohte Kulturen eingesetzt, und zuletzt dämmerte ihm, daß seine eigene, die Kultur des Abendlands, am stärksten bedroht war. Aber gehörte nicht auch die dem Abendland entwachsene wissenschaftlich-technische Begriffskultur letztlich zum wilden Denken? War nicht auch sie letztlich gequantelte Überlebensstrategie?
Und war ein Wirkungsquantum, das sich mit soviel Licht, soviel exklusiver Erfahrung und Einsicht multipliziert hatte wie die westliche Begriffskultur, nicht vor allen anderen in der Lage, den drohenden Kollaps zu verhindern und ebenso neuartige wie wirkungsvolle Selbstheiltechniken auszubilden? Wenn überhaupt Rettung, dann aus dem Abendland!