In den polnischen Milchbars, einer Art Selbstbedienungs-Garküche mit einfachen traditionellen Gerichten, läßt sich manchmal beobachten, wie Gäste vor dem Essen flüchtig ein Kreuz schlagen; in Taxen oder im PKS-Überlandbus baumelt am Rückspiegel ein Bildchen der Muttergottes. Die Kirchen, und nicht nur die in den Innenstädten unseres östlichen Nachbarlandes, sind tagsüber bis nach der Abendmesse offen, frequentiert nicht von Kunstinteressierten, sondern von Betern; an Sonn- und Feiertagen gibt es viele Messen über den ganzen Tag verteilt, so groß ist der Andrang der Gläubigen. Im mittelpolnischen Licheń wurde unlängst ein riesenhaftes römisch-katholisches Sanktuarium fertiggestellt, das größte Gotteshaus Polens. Den legendären Arbeiterführer und kauzigen Ex-Präsidenten Lech Wałęsa kennt man nicht anders als mit der Madonna von Tschenstochau am Revers. Was sagt das über die alte Gleichung Pole = Katholik?
Nach einem Jahrbuch zur Jugend legt das Deutsche Polen-Institut Darmstadt 2009 ein Buch mit dem Schwerpunkt Glaube, Religion und Kirche vor. Zehn Essays namhafter Autoren und zwei Interviews beleuchten das religiöse Leben zwischen Oder und Bug und fördern ein facettenreiches Bild zutage, in dem die Position der katholischen Kirche nach wie vor dominiert. Bei ihr liegt daher auch der Schwerpunkt der Auseinandersetzung, die vom „größten Unglück des Weltprotestantismus“, der Rekatholisierung der deutschen Ostgebiete ab 1945 (hier polonophil „polnische Westgebiete genannt“), über die Rolle der Kirche während der Solidarność-Bewegung bis zu den Schwierigkeiten kirchlicher Selbstfindung nach dem Übergang zur demokratisch-pluralistischen Gesellschaftsordnung und aktuellen Debatten reicht.
Weitere Kapitel befassen sich mit der Situation anderer christlicher Konfessionen, stellen den schwierigen Neuanfang des Judentums dar und geben Einblick in die vielhundertjährige Geschichte des Islam in der Rzeczpospolita und die Spannungen zwischen alteingesessenen Tataren und den zahlenmäßig schon überlegenen moslemischen Einwanderern heute. Abgerundet wird der Band durch nützliche Info-Kästen sowie einige neueste polnische Erzählungen und Gedichte, die religiöse Fragen künstlerisch verarbeiten. Die faktengesättigte, fundierte, dabei gut lesbare Darstellung ist für jeden Polen-Interessierten ein echter Gewinn, auch wenn man die durchweg linksliberale Perspektive der meisten Autoren nicht teilen mag.
Foto: Deutsches Polen-Institut Darmstadt (Hrsg.): Jahrbuch Polen 2009. Band 20: Religion. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2009, broschiert, 217 Seiten, 11,80 Euro