Das Karlsruher Urteil zum Lissabon-Vertrag hat klargestellt: Der vormundschaftliche Überstaat, auf den die Regierungen und die Brüsseler Bürokraten zusteuern, ist kein Gottesgericht. Man muß ihn nicht hinnehmen. Eine andere Frage ist die nach der Zukunft Europas. Sie hat sich mit dem Urteil sowenig erledigt, wie Europa und Brüssel identisch sind.
Ein Blick auf die Landkarten, Statistiken, Größenverhältnisse macht deutlich, daß die Klein- und Mittelstaaten Europas nur gemeinsam ihren globalen Bedeutungsverlust abbremsen können. Gewiß: Alte Konflikte zwischen ihnen verblassen erst allmählich, neue Interessengegensätze brechen auf, aber keine sind mehr existentiell. Am globalen Maßstab gemessen, überwiegen die Gemeinsamkeiten alles Trennende.
Die Sorge vor der Etablierung einer kontinentalen Hegemonialmacht, dieser Alptraum, der die innereuropäische Politik jahrhundertelang bestimmte, wirkt anachronistisch angesichts der weltweiten US-Dominanz und der neuen Machtzentren in Asien. Sich weiter – und zwar unter Mithilfe außereuropäischer Mächte – in interne Konflikte zu stürzen, würde nur die Macht der anderen vergrößern und Europas Mündelstellung verewigen.
Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise liefert zusätzliche Argumente für die Europäisierung der Politik in Europa. Sie hat bereits zu einer Neubewertung von Globalisierungsphänomenen geführt. Natürlich kann die Globalisierung, die vor über 500 Jahren mit der Entdeckung, Erschließung und Kolonisierung der Welt durch die europäischen Mächte begann, nicht umgekehrt werden, aber ein unhinterfragbarer Selbstzweck darf sie auch nicht bleiben. In den letzten Jahren schien die Aufgabe der Staaten nur noch in der eigenen Deregulierung zu bestehen, im Verzicht auf alle Steuerungs- und Kontrollfunktionen. Kapital und Waren sollten frei fließen, die menschliche Existenz sich auf die von flexiblen, weltweit miteinander konkurrierenden Arbeitsbienen reduzieren: ein Krieg aller gegen alle als vorerst letzte Konsequenz aus dem totalen Sieg, den das angelsächsische Freihandelsmodell in zwei Welt- und einem Kalten Krieg errungen hat.
Noch vor zwei Jahren brauchte es keine intellektuelle Anstrengung, um dieses Modell zu begründen, es trug seine Legitimation in sich von selbst. Kritiker wurden als ewiggestrig, reaktionär, beschränkt, nationalistisch, antimodernistisch, freiheitsfeindlich usw. der Lächerlichkeit überführt. Plötzlich hat die Beweislast sich umgekehrt und kommt auch der französische Historiker Emmanuel Todd („Nach der Demokratie“) zu der Erkenntnis, „daß entweder das allgemeine Wahlrecht abgeschafft und damit auf die Demokratie verzichtet wird oder man den Freihandel beschränkt, zum Beispiel durch intelligente Formen von Protektionismus auf kontinentaler Ebene in Europa, womit das heute herrschende Wirtschaftssystem in Frage gestellt würde“.
Die Nähe von Todds Protektionismus- zum kontinentalen Großraumentwurf des Staatsrechtlers Carl Schmitt ist evident. Für Europa geht es freilich nicht nur um die Demokratie, sondern um den Bestand seiner gesamten geschichtlichen und kulturellen Überlieferungen auf dem eigenen Territorium. Ein europäischer Protektionismus dürfte sich daher nicht nur auf die Wirtschaft beziehen. Auch im Politischen und Moralischen müßte die Freihandelslogik zurückgeschnitten werden. Vor allem müßte Europa seinen menschenrechtlichen Universalismus aufgeben. Als westlich-europäischer Expansionsanspruch hat er sich – man denke an China – ohnehin erledigt, dafür gibt er raumfremden Kulturen und Religionen politisches, moralisches und juristisches Erpressungspotential in die Hand, um ihrerseits Expansionsansprüche in Europa zu verwirklichen. Man braucht auch einen menschenrechtlichen Protektionismus, und das heißt: den Vorrang und die Protegierung der eigenen Bürger in deren eigenem Haus!
Dazu müßte das politische Europa auf eine neue historische und geistig-kulturelle Grundlage gestellt werden. Denn der von Brüssel bisher praktizierte Universalismus steht im engen Zusammenhang mit den Gründungsmythen der Europäischen Union. Diese verklären das Jahr 1945 zum historischen Angelpunkt und die USA samt ihrem auf Liberalismus und Freihandel zielenden Missionierungsdrang zum Retter Europas.
Das bedeutet zugleich, die EU moralisch auf dem Sieg über dasjenige Land zu gründen, welches bei der Strukturierung eines europäischen Großraums die größten Lasten tragen muß und von allen Ländern am wenigsten verzichtbar ist. Das bringt die anderen Partner dazu, die deutschen Leistungen als Ablaßzahlungen zu betrachten, die ihnen wegen des Zweiten Weltkriegs zustehen, anstatt als Investition in eine gemeinsame Zukunft, die auch sie verpflichtet, im gemeinsamen Interesse eigene Anstrengungen zu unternehmen.
In Deutschland hat dieses Mißverhältnis zur Europa-Müdigkeit geführt, die Deutschen fühlen sich ausgenutzt, übers Ohr gehauen, überfordert, während ihre Funktionselite, um das brüchige Gefüge zusammenzuhalten, die Rolle des Alleinfinanziers akzeptiert, aber zu keinen politischen Initiativen für Europa mehr fähig ist. Dem Zuviel der Deutschen an Vergangenheitsbewältigung steht ein Zuwenig der anderen gegenüber.
Mit zunehmendem historischem Abstand zum Zweiten Weltkrieg muß es gelingen, die europäischen Tragödien des 20. Jahrhunderts als gemeinsam verursachte Selbstzerstörung zu deuten! Dieser Selbstzerstörung gingen Fehleinschätzungen der inneren und äußeren Lage Europas, insbesondere des globalen Einflusses des Alten Kontinents, voraus. Nutznießer waren Rußland und die USA, zwei raumfremde Supermächte. Eine weitere europäische Tragödie hätte noch ganz andere Profiteure und wäre wohl irreversibel.
Wenn Europa keinen gemeinsamen Machtwillen formuliert und glaubwürdig vertritt, kann es dem Freihandel keine Alternative entgegengesetzen. Im Gegenteil, der fatal zurechtgestutzte Gründungsmythos der EU lädt äußere Mächte ein, innereuropäische Spannungen zu fördern, auszunutzen, zu verstetigen. Hinter der britischen Zustimmung zu einem Beitritt der Türkei steht die Absicht, den europäischen Gedanken auf den einer Freihandelszone zu beschränken. Polen, Tschechien oder Italien, die ebenfalls Ankaras Beitrittswunsch bejahen, freuen sich über den Fußtritt, den sie Deutschland damit versetzen, und empfehlen sich als Partner der USA, die so einen starken innereuropäischen Hebel in die Hand bekommen.
Ein auf neuer politischer und geistiger Grundlage gegründetes Europa, das seine Kultur- und Lebensform für schützenswert hält und sich als wehrhaft erweist, würde auch überproportionale Nettozahlungen aus Deutschland rechtfertigen. Man darf sich in diesem Punkt nicht auf die finanzpolitische Betrachtungsweise beschränken.
Deshalb: Ja zu Europa und unter Umständen zur Europäischen Union als einem Versuch, dem Kontinent eine politische Form zu geben. Doch ein entschiedenes Nein zur Herrschaft der Bürokraten und Ideologen in Brüssel!
Foto: Manneken Pis in Brüssel, eines der Wahrzeichen der Stadt mit dem Hauptsitz der Europäischen Union: Die Deutschen fühlen sich ausgenutzt, übers Ohr gehauen, überfordert, während ihre Funktionselite, um das brüchige Gefüge zusammenzuhalten, die Rolle des Alleinfinanziers akzeptiert, aber zu keinen politischen Initiativen für Europa mehr fähig ist.