Eine überwältigende Mehrheit der Bürger, manche Umfragen weisen Werte von über 90 Prozent aus, hält es für ausgeschlossen, daß in der neuen Legislaturperiode Steuersenkungen möglich sind. Gänzlich irrational ist dieses Vorurteil nicht, und es wird sogar von den meisten Experten geteilt. Die Haushaltsdefizite wachsen in schwindelerregendem Maße, die Staatsverschuldung steigt unaufhörlich auf immer neue, noch vor wenigen Jahren für undenkbar gehaltene Rekordwerte, eingeplante Einnahmen des Fiskus brechen weg, während ungeplante Ausgaben hinzukommen, und auch die Wirtschaft scheint noch keine rechte Vorstellung davon zu besitzen, wo denn der Wachstumspfad liegen könnte, den sie zu beschreiten hätte, um der Krise zu entrinnen: Unter diesen irritierenden Rahmenbedingungen stellt sich selbst jene schrumpfende Schar von Unverbesserlichen, die unbeirrt dem Wunderglauben an die Marktkräfte anhängen, die Frage, ob es noch länger seriös ist, so zu tun, als wäre eine Entlastung der Bürger praktikabel.
Es ist auffällig, daß derartige, von weiten Teilen der Bevölkerung geteilte Bedenken den im zurückliegenden Wahlkampf widerstreitenden Zukunftsvisionen keinen Abbruch getan haben. Steuersenkungen wurden vielmehr entweder suggeriert (CDU), vollmundig angekündigt (CSU) oder, wohl als Ausweis fiskalischer Vernunft, auf die Massen der Normal- und Geringverdiener beschränkt (SPD). Arbeit soll sich schließlich wieder lohnen, indem man mehr Netto vom Brutto erhält (FDP). Dieser Wahlkampf hat somit, so unspektakulär er ansonsten auch war, die Neuerung mit sich gebracht, daß die Parteien etwas versprachen, was die Wähler von vornherein als unrealistisch ansehen mußten und in ihrer Entscheidung daher gar nicht berücksichtigen konnten.
Die nächstliegende Erklärung für dieses Kuriosum ist, daß man den Bürgern nicht noch den Rest von Optimismus nehmen wollte, den sie brauchen werden, um durchzustehen, was sie in den nächsten Jahren erwartet. Statt Steuersenkungen stehen Steuererhöhungen ins Haus, und es nützt niemandem, die Menschen vor der Zeit mit Problemen zu belasten, die weder sie selbst noch die durch sie gewählten Politiker lösen können.
Wer im Wahlkampf für Steuersenkungen eintrat, muß überdies nicht befürchten, daß man ihn eines gebrochenen Versprechens bezichtigt, dem sowieso niemand Glauben schenkte, wenn er nun das Gegenteil beschließt. Er kann sich vielmehr des Mitgefühls der Bürger gewiß sein, die ihm abnehmen, wie schwer ihm sein aus der Not geborenes Umschwenken fällt.