Daniel Kehlmann steht unter Genieverdacht. Seit seinem Welterfolg „Die Vermessung der Welt“ wird der in Wien lebende junge Schriftsteller mit Argusaugen beobachtet. Und wie es üblich ist, wenn ein Verdacht im Raum steht, melden sich bald Stimmen zu Wort, die diesen stützen oder aber zu entkräften versuchen. Nun hat sich der „Verdächtige“ selbst zu Wort gemeldet, mit einer Verteidigungsschrift, die den ambitionierten Titel „Ruhm“ trägt und eigentlich eine Selbstanklage ist: Seht her, der Verdacht des Kritikers, von dem die eingangs zitierte Einschätzung stammt und mit dem der Rowohlt-Verlag für den neuen Roman wirbt, ist so unbegründet nicht.
Seit der Veröffentlichung des schmalen Buches vor knapp zwei Monaten hat die Auseinandersetzung über die Frage nach dem Genie-Faktor bei Kehlmann und die Nachhaltigkeit seines Erfolges, ja um das ganze „Phänomen Kehlmann“ neuen Schwung erhalten. Mittlerweile sind mehr als 250.000 Exemplare von „Ruhm“ verkauft worden, eine Zahl, von der die meisten Schriftsteller ihr Leben lang träumen – die Frage nach dem Erfolg scheint damit beantwortet.
Aber ist es auch für Kehlmann ein Erfolg? Schließlich wurde die „Vermessung“ als eines der Ereignisse der Nachkriegsliteratur gehandelt und verkaufte sich über 1,7 Millionen Mal. Da liegt die Latte hoch. Daß er diese jemals wieder erreichen wird, glaubt Kehlmann, der den Hype um seinen Erfolgsroman selbst auf eine Reihe von Zufällen und Mißverständnissen zurückführt, übrigens selbst nicht – zumindest behauptet er das.
Doch das Phänomen Kehlmann beschränkt sich nicht auf die Qualität seiner Bücher und deren Verkaufszahlen. Kehlmann ist mehr. Das wird schon bei seinen Lesungen deutlich, die mitunter den Charakter eines „Event“ annehmen. Sie haben nicht mehr viel gemein mit den meist betulichen Veranstaltungen in der kleinen Buchhandlung an der Ecke, wie sie Loriot so treffend (inklusive älterer Damen und eines verbissen dreinschauenden Dichters in knautschender Lederjacke) in „Pappa ante Portas“ festgehalten hat. Kehlmann zieht zu seinen Lesungen, die gerne auch im ausverkauften Stadttheater stattfinden, viel junges Publikum an, typische Umhängetaschenträger wie der gerade 34 Jahre alt gewordene Kehlmann selbst, die den „jugendlichen Erneuerer der deutschen Literatur“ sehen wollen und vielleicht gar nicht so sehr auf das neue Buch des Autors gespannt waren.
Hier zeigt sich: Kehlmann ist das, was der deutschen Literatur lange gefehlt hat: ein hochbegabter junger Autor, der über das redet und schreibt, von dem er etwas versteht (Literatur), und ansonsten nicht den Eindruck vermittelt, er habe zu allem etwas zu sagen. Auch politisch nimmt sich Kehlmann bislang wohltuend zurück, und meidet etwa Talkshows – wie er sagt, um nicht auf der Straße erkannt zu werden. Der angenehme Nebeneffekt: Wir werden nicht mit Kehlmanns Antworten auf vermeintlich weltbewegende Fragen behelligt. („Herr Kehlmann, sollte Opel verstaatlicht werden?“)
Vielleicht verdankt Kehlmann seine Bodenhaftung dem Umstand, daß die „Vermessung der Welt“ zwar ein Paukenschlag, aber nicht sein Erstlingswerk war – „Ruhm“ ist sein mittlerweile sechster Roman. Bereits im Alter von 22 Jahren gab Kehlmann mit „Beerholms Vorstellung“ 1997 sein Debüt, das von der Kritik ebenso aufmerksam-freundlich registriert wurde wie der folgende Roman „Mahlers Zeit“ (1999). Beide Bücher handeln „von der Grenze zwischen dem Unwahrscheinlichen und dem Unmöglichen“, wobei nicht immer leicht auszumachen ist, wo diese verschwommene, verstörend durchlässige Grenze liegt und wann sie durchbrochen wird (Gunther Nickel). Verkaufserfolge waren die Vorläufer der „Vermessung“ indes nie. Neben dem ohrenbetäubenden medialen Lärm, den dieses Buch hervorgerufen hat, kennt Kehlmann also auch das lähmende Schweigen des ausbleibenden Erfolgs.
„Ruhm“ selbst ist handwerklich tadellos gearbeitet und versammelt neun raffiniert miteinander verzahnte Geschichten, die sich um die Tücken moderner Kommunikation drehen, um das Immer-Erreichbar-Sein und darum, was passiert, wenn diese zusammenbricht. Und es geht dem Irrtum nach, daß wir, nur weil jeder mittels Handy oder Internet jeden fast immer und überall erreichen kann, uns auch immer etwas zu sagen hätten.
Da ist der Computerexperte, der durch ein Versehen die Handynummer eines Filmstars zugewiesen bekommt und zeitweise in ein anderes Leben eintaucht, und da ist die Krimiautorin, die in einem fernen postsowjetischen Land ihre Reisegruppe verliert und, als ihr Telefon den Geist aufgibt, der Welt verlorengeht.
Das Buch steckt voller Finten und Überraschungen. Die Geschichten beleuchten oft nur schlaglichtartig das Schicksal der Protagonisten, die in der einen Geschichte beiläufig erwähnt werden, in einer anderen plötzlich im Mittelpunkt stehen. Manches bleibt dabei offen, der Fortgang wird häufig nur angedeutet. Bei allem Wirklichkeitsbezug hat Kehlmann keinen realistischen Roman geschaffen, wie ja auch die „Vermessung der Welt“ trotz der historischen Figuren Humboldt und Gauß kein historischer Roman war.
Aus allen Geschichten aber ragt eine heraus: „Rosalie geht sterben“. Eine anrührende Geschichte einer todkranken älteren Dame, die mit Hilfe eines Schweizer Selbstmordvereins ihrem Leben ein Ende setzen will. Doch auf der Reise nach Zürich bittet sie ihren Schöpfer – also Kehlmann, der sich hier hinter der Maske des fiktiven Autors Leo Richter verbirgt, der auch in anderen Geschichten auftaucht – um ihr Leben: ein atemberaubendes Stück Literatur.
Man kann die Geschichte, derentwegen es sich allein lohnt, „Ruhm“ zu lesen, als Plädoyer gegen die Sterbehilfe, gegen das Geschäft mit dem Tod lesen. Kehlmann selbst reagiert zurückhaltend. Er habe den Eindruck, sagte Kehlmann bei der Buchpremiere im Berliner Ensemble, „daß daran“, an der Sterbehilfe also, „etwas nicht richtig“ sei, er wisse aber nicht, was.
Und die Kritiker? Sie haben das Buch überwiegend positiv aufgenommen, bemängelt wird gelegentlich, daß es zu makellos sei („spiegelglattes Designmöbelstück“). Manche scheinen indes auch nur auf den neuen Kehlmann gewartet zu haben, um die „Vermessung“ als einmaliger Wurf zu entlarven und das „literarische Wunderkind“ zu entzaubern. Die FAZ verweist mit John Updike darauf, daß einige Kritiker nicht das Buch, sondern den Autor rezensieren wollten. Kehlmann dürfte diese Art der widerstrebenden Anerkennung richtig zu deuten wissen. Der am Anfang zitierte Kritiker ist übrigens der Ansicht, daß sich der Genieverdacht bei Daniel Kehlmann verdichtet. Damit steht er nicht alleine.
Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, gebunden, 204 Seiten, 18,90 Euro
Foto: Daniel Kehlmann: Neben dem ohrenbetäubenden medialen Lärm kennt er auch das lähmende Schweigen des ausbleibenden Erfolgs