Seit Wochen tobt um den tschechisch-französischen Schriftsteller Milan Kundera ein Meinungskrieg von internationalen Ausmaßen. Von New York bis Moskau fragen sich Kolumnisten und Zeithistoriker: „Hat er nun verraten oder nicht?“ Die Sache ist deshalb so heiß, weil Kundera ein sehr guter, weltbekannter Autor ist und bisher auch als ein in jeder Hinsicht untadeliger Ehrenmann galt. Nicht weniger als seine gesamte bürgerliche Reputation steht auf dem Spiel.
Es geht um einen Vorgang aus dem Jahre 1950, den jüngst ein fleißiger Prager Archivar ans Licht gehoben hat. Demnach hat Kundera, damals Jungkommunist und Mitbewohner eines staatlichen Studentenheims, einen zweiundzwanzigjährigen antikommunistischen Emigranten und Widerständler, der „illegal“ nach Prag zurückgekehrt und bei einer Ex-Freundin untergeschlüpft war, die auch in dem Heim wohnte, bei der Polizei angezeigt. Der Angezeigte wurde daraufhin verhaftet, in einem Geheimprozeß zum Tode verurteilt und später zu 22 Jahren Lagerhaft begnadigt, von denen er volle vierzehn Jahre im Uranbergbau verbüßte.
Eine wahrhaft finstere Geschichte. Die Dokumentenlage ist an sich klar. In dem Polizeibericht steht unverrückbar: „Es erschien auf der Wache der Student Milan Kundera, geboren am 1. April 1929, und meldete, daß ein illegaler Flüchtling bei der Studentin Iva Militka einen Koffer untergestellt habe.“ Kundera aber erinnert sich an nichts und vermutet eine heimtückische Intrige gegen sich. Bei einigen Kolumnisten ist die Rede davon, daß ein Kommilitone von Kundera und Militka namens Miroslav Dlask die Anzeige gemacht und dabei hinterhältigerweise den Namen Kunderas benutzt haben könnte.
Ganz offenbar waren alle Beteiligten, Kundera, Dlask, das Denunziationsopfer Miroslav Dvoracek und noch einige andere, in das schöne Fräulein Militka verliebt (Dlask bekam sie später zur Frau). Dvoracek, zunächst Ivas Top-Favorit, ging in den Westen und war zunächst aus dem Rennen. Doch eines Tages war er, nun „Westagent“ und „illegal“, plötzlich wieder da und schlüpfte bei Iva in dem Studentenheim unter. Kundera wußte davon, Dlask wußte davon, vielleicht sogar noch weitere Genossen. Da war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Dvoracek denunziert werden würde.
Alle übrigen waren ja mehr oder weniger von der „Sache“ (also vom Kommunismus, der sich soeben an die Macht geputscht hatte) überzeugt, und sie wußten auch, daß sie Dvoracek anzeigen „mußten“, um sich nicht selber strafbar zu machen. Außerdem lockten die Pluspunkte, die man bei der Partei durch eine Anzeige sammeln konnte. Der arme Dvoracek! Er hatte geglaubt, bei der Geliebten von einst und bei den alten Kumpanen im Heim sicheren Aufenthalt für einige Tage zu finden. Aber das Heim war längst nicht mehr sicher. Es hatte sich in einen Krokodilsumpf verwandelt.
Vaclav Havel, der Dramatiker und tschechische Ex-Präsident, der in der Kommunistenzeit nie mit der Partei turtelte, hat inzwischen in die Affäre eingegriffen und zur Gelassenheit ermahnt. Die nachgeborenen Junghistoriker und Archivhengste sollten genau die einstigen Zeitumstände bedenken, bevor sie individuelle Schuldsprüche von sich gäben. Und „der liebe Milan“ (Kundera) sollte sich eventuelle uralte Jugendtorheiten nicht allzusehr zu Herzen nehmen; wichtig sei sein literarisches Werk, und das sei über jeden Zweifel erhaben.
Pankraz ist, bei allem Respekt, mit solchen Worten nicht ganz einverstanden. Der Fall erscheint ihm geradezu als Paradigma für Verrat im Zeichen jugendlicher Leidenschaft und Glaubenstreue. Denn es stimmt ja: Kundera oder Dlask oder beide haben bei der Anzeige völlig in Übereinstimmung mit ihren innersten Überzeugungen gehandelt, und sie haben sich dabei strikt an das vom Regime erlassene Gesetz gehalten. Ex-Kumpel Dvoracek war zum „Klassenfeind“ geworden, das Tischtuch zu ihm war zerschnitten. Aber mußte er deshalb verraten und regelrecht zur Strecke gebracht werden?
Zahllosen überzeugten Jungkommunisten ging es damals wie Kundera und Dlask. Sie hatten sich voller Begeisterung auf die neue Ordnung eingelassenen, engagierten sich selbstlos — aber noch vor den ersten theoretischen Anfechtungen kamen die praktischen. Bis dato unbekannte Genossen tauchten bei ihnen auf, legitimierten sich glaubhaft und begehrten Auskünfte über Mitmenschen, gerade über die liebsten und vertrautesten, über die Eltern, den Ehepartner, den Lehrer, den Freund oder die Freundin. Es war wie ein Eisregen in lauer Frühlingsnacht.
Der Teufel zeigte unverhofft seinen Pferdefuß, entrollte Papiere und begehrte Unterschrift, geleistet mit einer Tinte aus eigenem Blut. Verrat wurde gefordert, der — um mit Margaret Boveri zu sprechen — „typische Verrat des zwanzigsten Jahrhunderts“, der darin bestand, daß man im Namen irgendeiner Doktrin, irgendeiner „Überzeugung“, intimste, elementarste Lebensbeziehungen preisgab und in die Verfügungsgewalt der Doktrinäre stellte.
Wer da nicht spontan erschauerte, selbst wenn er noch unverbrüchlich an die Würde und Großartigkeit der Doktrinäre glaubte, der mußte eigentlich ein ziemlicher Seelenkrüppel sein. Es schieden sich da jedenfalls die wirklich Tapferen und Einsichtigen von den weniger Tapferen und weniger Einsichtigen, und bei vielen von denen wurde der Keim zu späterer Dissidenz und Abwendung gelegt. Sie waren keine Helden, aber sie wurden, wenn sie keine bloßen Zyniker und Opportunisten waren, zu wachsamen Skeptikern.
Pankraz vermutet sehr stark, daß auch Kundera und Dlask zu wachsamen Skeptikern wurden. Dlask kann man nicht mehr darüber befragen, er ist inzwischen verstorben. Von Kunderas Betroffenheit und Verletzung und von seiner späteren Dissidenz zeugt sein gewaltiges Werk, von dem frühen Roman „Der Scherz“ bis zum berühmten Opus magnum „Die unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Die Betonung liegt hier eindeutig auf „unerträglich“.
Glasfassaden der Unfreiheit
Das deutsche Elend wird zum europäischen: Moralpolizisten sollen über die Geschichte wachen
Doris Neujahr
Vor knapp zwei Jahren, als die Bundesrepublik die Präsidentschaft in der Europäischen Union übernahm, kündigte Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) ein europaweites Gesetz gegen die Holocaust-Leugnung an (JF 3/07, „Europaweite Antifa-Klausel“). Wegen des Widerstands aus mehreren Mitgliedsländern trat sie nach einigen Monaten den taktischen Rückzug an und beschränkte sich auf neue Vorschriften gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit etc. Vom Ursprungsprojekt war eineinhalb Jahr lang nichts zu hören, doch nach aller Erfahrung war damit zu rechnen, daß hinter den Kulissen daran weitergewerkelt würde.
Inzwischen haben sich die Befürchtungen bestätigt. Es steht die Verabschiedung eines „Rahmenbeschlusses“ durch Brüssel bevor, der anschließend in nationales Recht umgesetzt werden müßte. Er sieht für die „öffentliche Billigung, die Negation oder die grobe Banalisierung von Genozid-Verbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ Gefängnisstrafen zwischen einem und drei Jahren vor. Durch die Ausweitung der Strafandrohung für Holocaust-Leugnung auf weitere Genozide und historische Vorgänge ist die Vorschrift noch schlimmer geworden. Qualitativ stellt sie einen „Gummiparagraphen“ dar, mit dem ein politisches bzw. Gesinnungsstrafrecht auf europäischer Ebene etabliert würde.
Nicht die EU-Kommission hat den Plan an den Tag gebracht, auch kein EU-Parlamentarier — die Brüsseler Glasfassaden stehen mitnichten für demokratische Transparenz, sondern für kompromißlose Härte gegen die eigenen Bürger — und auch kein investigativer („mutiger“) Vertreter der „freien Presse“ in Deutschland. Erst auf einem Umweg ist er öffentlich geworden: durch eine Protestresolution internationaler Wissenschaftler, den „Appell von Blois“.
In der zwischen Orléans und Tours an der Loire gelegenen Stadt Blois hatten sich auf Einladung des Bürgermeisters und früheren Kulturministers Jack Lang europäische Historiker versammelt, um sich gegen die drohende Einschränkung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu wehren. In ihrer Erklärung heißt es, daß es in einem freien Staat keiner politischen Autorität zustehe, die historische Wahrheit zu definieren. Alle Historiker sollten ihre Kräfte in ihren jeweiligen Ländern sammeln, den Appell unterzeichnen und Strukturen aufbauen, „um die Pläne für Gesetze zum historischen Erinnern aufzuhalten“. Der Schlußsatz lautet: „In einer Demokratie ist die Freiheit der Geschichte die Freiheit aller.“
Zu den Unterzeichnern gehören aus Deutschland die Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann sowie der zuletzt in Berlin lehrende Historiker Heinrich August Winkler. Ein anderer Mitunterzeichner, der britische Historiker Timothy Garton Ash, hat im Guardian die Möglichkeit einer „Erinnerungspolizei“ in Aussicht gestellt und namentlich Brigitte Zypries scharf angegriffen. Ash fürchtet eine Geschichtswissenschaft, die sich nach ihrem politischen Nutz- und Tauschwert richtet. Ob die Haltung der deutschen Historiker ähnlich konsequent ist wie die des britischen Kollegen, oder ob es ihnen vor allem darum geht, die vermeintliche Singularität des Holocaust vor der Banalisierung zu bewahren, läßt sich nur im Einzelfall entscheiden. Brüssel jedenfalls will durch Sanktionsdrohungen ein verbindliches, transnationales, kollektives Gedächtnis etablieren, das die eigenmächtige Politik der Kommission willenlos affirmiert. Die Entwicklung kündigte sich spätestens im Jahr 2000 mit der „Holocaust-Konferenz“ von Stockholm und dem großangelegten europäischen Forschungsprogramm „Okkupation in Europa: Die Wirkung (Impact) der nationalsozialistischen und faschistischen Herrschaft“ an.
Das deutsche Elend — der Negativbezug auf die eigene Geschichte — wird mehr und mehr zum europäischen. Auch ausländische Politiker haben die Möglichkeit entdeckt, auf dem Umweg über Brüssel Beschlüsse durchzupeitschen, die zu Hause unpopulär sind und das Wahlvolk entmündigen. Das Lieblingsbuch der EU-Anhänger, „Der Europäische Traum“ von Jeremy Rifkin, nennt als dessen Kennzeichen die Achtung der Menschenrechte, sozialen Ausgleich, Friedfertigkeit nach innen und außen sowie Nachhaltig- und Gemeinschaftlichkeit. Die Brüsseler Geschichts-, Verhaltens- und Strafrechtsdogmatiker behaupten, in genau diesem Sinne zu handeln und dazu das geistig-kulturelle Erbe Europas zu aktualisieren. In Wahrheit füllen sie ein geistig-kulturelles Vakuum mit giftigen Nebelschwaden.
Als Ortega y Gasset vor achtzig Jahren die Krise des modernen Europa diagnostizierte, wollte er trotzdem von den Prophezeiungen Spenglers nichts wissen. Die USA und die Sowjetunion seien bloß „Randgebiete der europäischen Herrschaft“ und, weil ohne eigenen Geist, keine Mächte der Zukunft. In einem integrierten Europa, das den Nationalismus überwindet, würden eine neue Vitalität freigesetzt und Geist und Kultur sich verjüngen.
Dreißig Jahre danach hatte sein spanischer Landsmann Luis Diez del Corral in „Der Raub der Europa“ keinen Grund mehr, Ortegas Optimismus zu teilen. In Osteuropa ging Rußland daran, das Nationalbewußtsein und die nationale Wirklichkeit brutal durch Klassenbewußtsein zu ersetzen. Westeuropa war unter die Fittiche der USA geschlüpft, die strenge moralistische, kriegerisch-politische Kategorien ins politische und gesellschaftliche Leben einführten. Im Kalten Krieg mochte das nützlich sein, aber es fehlte die Vorstellung vom vielschichtigen und empfindlichen Geflecht der Traditionen, Grenzen, Macht- und Kulturformen, Rivalitäten und Bündnissen, aus denen die Welt der europäischen Nationen bestand.
Das Ergebnis beschrieb der Amerikaner John Ney 1971 in dem melancholischen Buch „Die europäische Kapitulation“, wo Europa als geistige und kulturelle US-Kolonie erscheint. Am schlimmsten war die Lage in Deutschland. Einzig die stolze Schweiz sei den USA „ebenbürtig oder überlegen“. Der Zorn der Eurokraten, den die Schweiz immer wieder auf sich zieht, ist historisch also gut fundiert.
Das vereinte, innerlich aber unfrei gebliebene Europa, das die moralistischen Kategorien, statt sie zu überwinden, nun durch Erinnerungspolizisten kontrollieren lassen will, erstickt — über ein mögliches Ende der US-Dominanz hinaus — die geistige Freiheit und damit den Rest seiner Vitalität. Das Zypries-EU-Europa ist ein Alptraum!
Der komplette Text des Appells von Blois findet sich im Internet unter www.lph-asso.fr/articles/50.html
Bild: Honoré Daumier, Der Angeklagte hat das Wort (Detail), Lithographie, 1835: „Die Freiheit der Geschichte ist die Freiheit aller“