Die Erben von Friedrich Ratzel und Karl Haushofer bekommen zu tun. Der von diesen einst geprägte Begriff der „Geopolitik“ ist in aller Munde. Denn die Ereignisse in und um Georgien haben auch dem allerletzten Fernsehzuschauer bewußt gemacht, daß moderne Außenpolitik kein simples Brettspiel mit einigen wenigen politologischen Regeln und einigen wenigen juristisch-völkerrechtlichen Gesetzen ist, sondern ein hochkompliziertes Jonglieren mit schier unzähligen und zudem noch verschieden großen Bällen, deren Eigenbewegung von den Akteuren höchstens zu erspüren, nie und nimmer voll zu berechnen ist.
Wer auf Dauer erfolgreich Außenpolitik betreiben will, der muß zwangsläufig zum Geopolitiker werden. Es genügt nicht, sich pomphaft auf abstrakte „Menschenrechte“ zu berufen und im übrigen überlegenes Gewaltpotential einzusetzen bzw. vorzuzeigen, es kommt vielmehr darauf an, sich mit dem „Genius des Raumes“ (Rudolf Kjellén) zu verbünden, d.h. die jeweiligen regionalen Traditionen zu respektieren, die örtlichen Leidenschaften ernst zu nehmen, sich über seine eigene räumliche Kompetenz und Zuständigkeit illusionslos Klarheit zu verschaffen.
An sich sind das pure Selbstverständlichkeiten, die schon bei Montesquieu (1689-1755) nachzulesen waren. Das Zeitalter des europäischen Kolonialismus und anschließend das Zeitalter der weltumgreifenden technischen Kommunikation (Globalisierung) haben sie leider verblassen lassen. Die Illusion wurde genährt, man könne (und müsse) politisch alles über einen Leisten schlagen. Welterlösungslehren wurden ausprobiert, mit verheerenden Folgen. Die Mär vom angeblich überparteilichen „Weltpolizisten“ wurde installiert, der sich (mit irgendwelchen Gremiensprüchen in der Hinterhand oder auch ohne sie) überall einmischen dürfe.
Was wir jetzt erleben, ist das Ende solcher „Politik vom Reißbrett“, eben die Rückkehr der Geopolitik. Man erkennt nun allenthalben, daß sich selbst die in hehren Stunden ausgedachten „Grundrechte“ angesichts konkreter Raumlagen dauernd gegenseitig ins Gehege kommen, beispielsweise die Lehre von der Unversehrtheit der Staaten und ihrer Grenzen hoffnungslos kollidiert mit der Lehre vom Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Haben die albanischen Kosovaren das Recht, sich vom serbischen Staatsverband zu separieren, die kaukasischen Osseten aber nicht das Recht, sich vom georgischen zu separieren? Welches Gesetz verbietet das eine und läßt das andere zu? Welches Gesetz erlaubte der raumfremden Nato, Belgrad im Interesse der Albaner zu bombardieren, welches Gesetz verbietet Rußland, der seit Jahrhunderten angestammten Schutzmacht der Osseten, in deren Interesse in Georgien zu intervenieren? Es gibt diese Gesetze nicht, weder reell noch potentiell.
Es gibt nur Interessen und Machtspiele raumnaher oder raumfremder Grupperungen, und über deren „Berechtigung“ entscheiden keine transzendenten Gesetzestafeln, sondern konkrete regionale Konstellationen, Verabredungen, Notwendigkeiten. Und es leuchtet ohne weiteres ein, daß die raumnahen Kräfte, also jene, die mit den Verabredungen unmittelbar zurechtkommen müssen, deren Alltag von ihnen geprägt wird, eine größere Berechtigung zu Aktion und Reaktion haben als die raumfremden. Das gilt sogar in Zeiten der globalen Kommunikation und der weltweit verflochtenen Finanz- und Rohstoffpolitik.
Als US-Präsident James Monroe 1823 die nach ihm benannte Monroe-Doktrin verkündete, war das gewissermaßen die erste Großtat vorausschauender Geopolitik. Die USA würden sich, versicherte Monroe, nicht in europäische Händel einmischen; man verbitte sich aber auch, daß die Europäer sich in amerikanische Händel einmischten und etwa Kolonien auf amerikanischem Territorium zu errichten versuchten. „Europa den Europäern“, sei die Devise, aber auch: „Amerika den Amerikanern“.
Natürlich waren das Verlautbarungen und Parolen aus dem vor-globalistischen Zeitalter, sie hatten jedoch einen die Epochen übergreifenden Realitätskern, und die Völker wären besser gefahren, wenn sie genauer auf sie gehört hätten; die ganze Ära des Kolonialismus und der Weltkriege wäre möglicherweise verhindert worden. Heute, unter den Bedingungen globaler Hochgeschwindigkeits-Information, ist keine Monroe-Doktrin mehr möglich, in welcher Form auch immer. Aber wie richtig ihre Intention war, macht faktisch jeder Tag, der vergeht, von neuem deutlich.
Man betrachte den Irak-Krieg und seine katastrophalen Folgen! Die Bush-Regierung in Wa-shington verfügte über alle notwendigen Informationen, um die Konsequenzen des Krieges realistisch abzuschätzen. Aber sie erreichte genau das Gegenteil ihrer Pläne. Den Iran wollte sie schwächen, doch er wurde gewaltig gestärkt. Es ging eben gar nicht um Informationen, sondern um die Unfähigkeit der raumfremden Amerikaner, die Informationen regionalspezifisch zu verstehen.
Die Schlußfolgerung für Geopolitiker kann da wohl nur lauten: Es muß bei der Lösung regionaler Konflikte eine Art Subsidiaritätsprinzip gelten, mit dem Grad der räumlichen Entfernung vom Konfliktherd als wichtigster Meßlatte. Das erste Recht auf Konfliktlösung haben nur die direkt betroffenen Staaten, Völker und Stämme, wobei die Stimme der kleineren höher gewichtet werden sollte als die der großen. Geographisch und mentalitätsmäßig entfernte Kräfte jedoch sollen sich in Geduld üben und im Falle. daß sie eingreifen, mit höchster Dezenz und Unabhängigkeit handeln. Sie vor allem müssen ihren Machthunger bezähmen und nicht zuletzt mediale Zurückhaltung üben.
Jedes mediale Gebrüll aus sicheren, weit entfernten Amtsstuben und Redaktionen ist, geopolitisch gesehen, von Übel. Das gilt selbstredend auch für die primär und unmittelbar beteiligten Seiten. Insofern steht die Geopolitik quer zum Zeitgeist. Daß sie trotzdem wieder Konjunktur gewinnt, ist ein gutes Zeichen.