An der Nischenstellung des vor zehn Jahren verstorbenen Philosophen Panajotis Kondylis dürfte sich bald einiges ändern. Denn die bislang überschaubare Rezeption des 1943 geborenen Denkers kommt langsam ins Rollen. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete kürzlich ein Symposium in Heidelberg, dem Ort, der für Kondylis zur zweiten Heimat geworden war. Organisiert wurde die Veranstaltung, in Deutschland die erste ihrer Art, vom Kondylis-Institut für Kulturanalyse und Alterationsforschung (www.kondiaf.de) und vom Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Mitorganisator war der rege Freundeskreis Panajotis Kondylis e.V. Die stets souveräne Leitung hatten die Professoren Dietrich Harth und Peter König inne.
Kondylis gehört zu den produktivsten und eigenständigsten philosophischen Denkern des 20. Jahrhunderts. Er schuf in nur zwei Dekaden ein Werk von enormer Fülle und philosophischer Tiefe, das durch seinen plötzlichen Tod abgebrochen wurde. Bewußt hatte er sich dafür entschieden, seine Werke in deutscher Sprache zu verfassen, da nur diese ihm geeignet schien, seinem abstrakten Denken Ausdruck zu verleihen.
Damit war er der letzte nicht-deutsche Philosoph von Rang, der sich für Deutsch als Publikationssprache entschieden hat. Nicht zuletzt waren es auch seine deutschen Gesprächspartner, die ihm für sein Denken wesentliche Impulse lieferten. Zu ihnen gehörten der Soziologie Ernst Topitsch, der Historiker Werner Conze, dem er sein Werk über den Konservativismus widmete, der Politologe Hans-Joachim Arndt, zu dessen 70. Geburtstag Kondylis einen Festschriftbeitrag leistete, sowie Reinhart Koselleck.
Seinen ersten großen Durchbruch erzielte Kondylis 1981 mit seinem Buch über die „Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus“. Darin rückte er vor allem die Aufwertung der Sinnlichkeit durch die Aufklärung in den Mittelpunkt, wies aber zugleich auf ihre nihilistischen und materialistischen Züge hin. Das bis zur Aufklärung zurückreichende Prinzip des individualistischen Hedonismus übertrug sich später von einer kleinen Avantgarde auf die breite Masse.
Die Kultur des Massenkonsums interpretierte Kondylis als konstitutiven Teil der gegenwärtigen politischen Ordnung. Die Massen seien politisch nicht mehr der Ausnahmezustand, sondern die Regel. Dabei bedeutete die Überwindung der Güterknappheit eine Zäsur von welthistorischer Bedeutung, die eine wesentliche Verschiebung der ethischen Vorstellungen nach sich zog: Zielten alle bis dahin vorherrschenden Ethiken auf Enthaltung, Selbstüberwindung und Askese, rückt nun eine immer offensivere „Selbstverwirklichung“ in den Mittelpunkt. Der Gedanke, daß die menschliche Würde an materielle Befriedigung gebunden sein soll, war mit dem christlichen Asketismus unvereinbar. Feinsinnig beschreibt Kondylis die Entwicklung von der Ablösung der ständischen Ordnung der societas civilis durch den bürgerlichen Liberalismus, welcher wiederum durch eine Umdeutung in die gegenwärtige Massendemokratie überging. Bürger wie Arbeiter wurden abgelöst durch den Konsumenten.
Es war der Berliner Sozialphilosoph Peter Furth, der in seinem Vortrag in Heidelberg darauf hinwies, daß Kondylis Begriff der „Massendemokratie“ quer zur Rhetorik des demokratischen Selbstlobs liegt. Am Ausgang des Liberalismus wie auch des Kommunismus steht — ohne Proletariat, aber auch ohne Bourgeoisie — die Massendemokratie als ein Drittes, eine im Konsum nivellierte Wohlstandsgesellschaft. Dabei sei repräsentative Massendemokratie, so Furth in Anknüpfung an Kondylis, die geduldete Herrschaft einer sich durch Gleichheitspopulismus stabilisierenden Elite, deren offensichtliches Problem die Qualität ihres aristokratischen Elementes sei. Da die Gleichheit in der Massendemokratie zu Lasten der Freiheit einen ressentimentgeladenen utopischen Zwang zu immer mehr Gleichheit entfalte, entstehe eine brisante Mischung aus Konformismus und Individualismus, an deren Ende eine in Selbstverwirklichungszwänge verstrickte Bevölkerung stehe, aber kein Staatsvolk mehr. Anknüpfend an Kondylis Analyse dieses inhärenten Populismus beschrieb der griechische Althistoriker Angelos Chaniotis (Oxford) die Rolle des Politikbetriebs in der Massenkultur als eine theatralische Inszenierungsfigur, die bis in die Politik der Antike zurückverfolgbar sei.
Die ihm eigene Methode, mit der Kondylis seine Ergebnisse auf den Begriff bringt, wird von ihm selbst als „deskriptiver Dezisionismus“ bezeichnet. So grenzt er sich bewußt von dem „militanten Dezisionismus“ ab, den er bei Carl Schmitt sieht. Machtstreben ist für ihn die wesentliche Kategorie seiner Beschreibungen, auch das Denken begreift er als genuin „polemisch“.
Durch seine streng deskriptive Methode eröffnet Kondylis Anknüpfungsmöglichkeiten für unterschiedlichste politische Ansätze. In konservativen Kreisen ist er vor allem durch seine kongeniale Ideengeschichte des Konservativismus bekannt geworden, worauf Pit Kapetanovic (Heidelberg) in seinem Vergleich mit Michael Oakeshott hinwies. Der Konservativismus ist für Kondylis nur mehr ein historisches Phänomen. Durch äußere Umstände hat er sich überholt und ging im bürgerlichen Liberalismus unter.
Die These vom Ende der Geschichte weist Kondylis hingegen entschieden zurück. Nach dem Ende des Kommunismus erwartet er für das 21. Jahrhundert das Ende des Liberalismus.
Er selbst hat aus seiner Internierung während des autoritären griechischen Obristen-Regimes die Konsequenz gezogen, Distanz zu jedweder Macht zu wahren. Kondylis bewegte sich jenseits von Pessimismus und Optimismus und nahm mit der philosophischen Melancholie eine dritte Position ein, wie Markus Käfer, Lehrbeauftragter an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, deutlich machte. Melancholie sei für Kondylis die einzig angemessene geistige Waffe im Ringen um eine unbeschadete Selbsterhaltung im Zeitalter der Massendemokratie. Der Verzicht auf Machtausübung an der Oberfläche schließt dabei aber keineswegs aus, „daß die Melancholie zu einer gestauten, aber doch vorhersehbaren Brutstätte der Entfaltung der Macht werden kann“ (Käfer).
Deutsche und griechische Teilnehmer diskutierten abschließend den Fortgang der Rezeption. Kondylis Nachlaßverwalter Athanasios Kaissis (Thessaloniki) plant die Herausgabe des Briefwechsels und eine Werkausgabe. Fotis Dimitriou (Bammental) bestreitet derzeit seine Doktorarbeit mit der Übersetzung vieler tausend beschriebener Kärtchen aus dem Nachlaß. Ein Tagungsband ist in Planung. Abgerundet wurde die Veranstaltung durch einen öffentlichen Abendvortrag des israelischen Militärhistorikers Martin van Crefeld, der provokante Thesen aus seinem neuen Buch „The Culture of War“ vorstellte.
Kurz vor seinem Tod am 11. Juli 1998 hatte Kondylis noch eine längere Reise auf den griechischen Berg Athos geplant. Heute stellt sein Werk selbst einen Gipfelpunkt nicht nur griechischen, sondern europäischen Denkens dar. Die Reise dorthin ist kein Spaziergang für Genießer leicht verdaulicher Kost, doch wer diese Reise unternimmt, spürt bald, daß sie aller Anstrengungen und Mühen wert ist.
Foto: Panajotos Kondylis (1943—1998): Keine leicht verdauliche Kost