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Der unser Leichentuch schneidert

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Der unser Leichentuch schneidert

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Am 11. November 1918 ging der Erste Weltkrieg nur in Europa zu Ende. In Afrika dauerte er zwei Wochen länger. Erst am 25. November 1918 streckte Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck nach vier Jahren Kolonialkrieg um Deutsch-Ostafrika im nordrhodesischen Abercorn die Waffen. Zu diesem Zeitpunkt war der Kommandeur der arg dezimierten deutschen „Schutztruppe“, die sich gegen Briten, Belgier, Südafrikaner und Portugiesen, vor allem aber gegen die Widrigkeiten der afrikanischen „Wildnis“ behauptet hatte, zur lebenden Legende geworden. Und dieser Nimbus Lettow-Vorbecks als Kriegsheld aus exotisch-fernen Tropenzonen, noch heute vor allem unter angelsächsischen Historikern ungebrochen, scheint auf den seit 1997 in London lehrenden akademischen „Migranten“ Eckard Michels geradezu provozierend gewirkt zu haben. Um aber einen entmythologisierenden Gegenentwurf bieten zu können, der sich nicht in flachsinniger Bewältigungspolemik erschöpft wie unlängst das Pamphlet Uwe Schulte-Varendorffs („Kolonialheld für Kaiser und Führer“, JF 2/07), stand ihm harte Knochenarbeit im Archiv bevor. Michels nutzte dabei seinen Standortvorteil und wertete auch die britischen Quellen mit bewunderungswürdiger Gründlichkeit und Akribie aus. Entstanden ist so die erste wissenschaftlich zuverlässige Biographie Lettow-Vorbecks, die zugleich exemplarische Einsichten in Weltanschauung, Werte und Mentalität der preußischen Militärelite nach der Reichsgründung von 1871 vermitteln will. Michels widmet daher dem Herkommen aus einer pommerschen Junker- und „Militärdynastie“, der prägenden Kadetten- und Leutnantszeit Lettows viel Raum, weil er meint, in den spartanischen Anfängen sei die rücksichtslose Härte des späteren Kolonialoffiziers gegen sich und andere bereits vorgezeichnet. Auch die Eigenart seiner ostafrikanischen Kriegführung sei in den Leutnantstagen zu suchen, denn auf der Kriegsakademie wie im preußischen Generalstab habe er nur gelernt, auf dem Schlachtfeld zu operieren, sei aber mit den politischen, ökonomischen oder psychologischen Dimensionen des modernen Krieges nie vertraut gemacht worden. Er habe deshalb gerade nicht, wie von einigen britischen Militärhistorikern behauptet, in Ostafrika einen „Guerillakrieg“ geführt und auch nicht den geringsten Versuch unternommen, in den benachbarten Kolonien, in die er mit seiner Truppe einbrach, einen „Befreiungskrieg“ der Afrikaner gegen ihre europäischen Zwingherrn zu entfesseln. Was Lettow-Vorbeck, der bei Interventionen in China („Boxeraufstand“) und Deutsch-Südwestafrika kolonialkriegerische Erfahrungen gesammelt hatte und der als Oberstleutnant 1914 sein Kommando am Kilimandscharo übernahm, allerdings — und hier betritt Michels die so ausgedehnte wie anfechtbare moralische Ebene seiner Darstellung — zur Genüge nach Ostafrika mitbrachte, sei ein eher gemeineuropäischer denn spezifisch deutscher „Rassismus“ gewesen. „Ritterlich“ dürfe man seine Kriegführung daher nur gegenüber seinen weißen Gegnern, nicht aber gegenüber der schwarzen Bevölkerung nennen. Michels rechnet vor, daß Lettow als „die Geißel Ostafrikas“ auf seinem „langen Marsch“ 1917/18 die eigene Kolonie und das ihr benachbarte Feindesland derart verwüstete, daß Hunderttausende Afrikaner ihre Lebensgrundlage verloren. Auf „möglicherweise über eine Million Menschen“ schätzt er die Gesamtzahl der Opfer von Lettows Ehrgeiz, die deutsche Kolonie gegen feindliche Übermacht zu behaupten. Hinzu kämen 100.000 in seinen Diensten umgekommene eingeborene Träger. Nicht zu Unrecht hätten ihn seine Askaris den „Herrn, der unser Leichentuch schneidert“ genannt. Fraglich sei überdies, welchen militärischen Sinn dieses Massensterben hatte. Denn die Streitkräfte, von Europäern befehligte indische und afrikanische Soldaten, die Lettow-Vorbeck in Übersee binden wollte, um die deutsche Westfront zu entlasten, wären wegen ihrer geringen Kampfkraft ohnehin niemals in die „Stahlgewitter“ Nordfrankreichs geschickt worden. Insgesamt bewertet Michels die soldatische Lebensbilanz des Pour-le-Mérite-Trägers mit einem vernichtenden „Alles umsonst“; bestenfalls als monomanisch-sportive, „menschenverachtende“ Leistung, die ihren Zweck nur in sich selbst gehabt habe, typisch für einen reinen Kriegshandwerker wie den „kommissig pedantischen“, „beratungsrestistenten“ Lettow-Vorbeck. Daß die detailliert rekonstruierte Lebensgeschichte des „Reaktionärs“ und Verwalters seines eigenes Ruhmes nach der triumphalen Rückkehr 1919 Michels nicht zu positiveren Wertungen reizt, versteht sich von selbst. Lettow-Vorbeck, kregel bis zuletzt, starb im März 1964, kurz vor seinem 94. Geburtstag. Beigesetzt wurde er im holsteinischen Pronstorf, wo noch heute sein gepflegtes Grab zu finden ist. Die Beisetzungsfeier inszeniert Michels treffend als „Scheitelpunkt westdeutschen Geschichtsbewußtseins“. Eine Ehrenkompanie der Bundeswehr samt Musikzug rückte im beschaulichen Pronstorf an, zwei Askari-Veteranen aus Tanganyika schwebten per Hubschrauber ein, sechs Offiziere hielten die Totenwache am Sarg, der in die preußische Fahne gehüllt war, Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassell sprach am Grab, und auf Wunsch des Verstorbenen erklang „Heil Dir im Siegerkranz“. Schon wenige Jahre später wäre so etwas undenkbar gewesen, zu schweigen von der traditionsbereinigten Bundeswehr unserer Tage. In der Tat ein symbolischer „Scheitelpunkt“, da gleichzeitig die Kontroverse um Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ nicht nur zu einer Neubewertung der Ursprünge des Ersten Weltkriegs, sondern zu einer Umwertung der gesamten preußisch-deutschen Geschichte, zu ihrer retrospektiven „Faschisierung“ geführt hat. Die von Michels zitierten „kritischen“ Stimmen über den „Hereromörder“, die einzigen, die bis zum Tod des Generals zur deutschen Kolonialgeschichte in der Nachkriegsöffentlichkeit zu vernehmen waren, las man damals in der SED-Presse — und sie klingen nicht zufällig nach dem derzeit politisch korrekten Jargon. Fotos: Einzug General von Lettow-Vorbecks in Berlin, 2. März 1919: Typisch für reinen Kriegshandwerker, Grabstätte Lettow-Vorbecks Eckard Michels: „Der Held von Ostafrika“. Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preußischer Kolonialoffizier, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2008, gebunden, 434 Seiten, Abbildungen, 39,90 Euro

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