Indien als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse: "Das kommt mir wie ein Schleiertanz der Maya vor", meinte lächelnd ein Herr von der Hindustan Times, zur Zeit "Hessischer Hof" (Ffm). Natürlich, Indien ist ein gewaltiges Land, und es ist ein modernes Land, mit vielen ehrgeizigen Hightech-Experten und einer Hauptstadtpresse, die stets auf der allerneuesten Welle des "internationalen Diskurses" dahinsurft. Aber es ist nach wie vor und unveränderbar auch das Land der Veden, der Upanischaden, der Seelenwanderung. Gleich hinter dem "Gateway of India", mitten in Bombay, beginnt der Lianenpfad.
Die moderne Welt verschwindet, und die Welt als ganze und immer Daseiende gerät ins Zwielicht. Ist sie die richtige für uns Menschen? In den Upanischaden, dem großen Weisheitsbuch der Bramahnen aus dem ersten Jahrtausend v. Chr., der indischen Bibel, wenn man will, erscheint sie als eine bloße Pervertierung der "eigentlichen" Welt, als ein Zufall und Abfall.
Denn diese begegnende Welt ist nicht Gegenwart, sondern ein ewiger Fortriß aus der Vergangenheit in die Zukunft, eine ewige Umwandlung von Leben in Tod, Reinheit in Schmutz, Licht in Finsternis. Sie ist "kernlos", wie das Schlüsselwort der Bramahnen lautet. Sowohl die leibliche wie die geistige Existenz der begegnenden Welt spiegeln diese Kernlosigkeit wider. Der Leib befindet sich in einem ewigen Prozeß des Verfalls, der Aufblähung, der Verrunzelung, der Krankheiten jeglicher Art. Alles, was in ihm steckt, ist fließend und viskos und widert die Sinne an: die Galle und der Kot und das Blut und der Schleim.
Und im Geist regieren Leidenschaft, Zorn, Begierden der erbärmlichsten, schmachvollsten Art, Wahn, Furcht, Verzagtheit, Neid, Hunger, Durst, Trennung von Liebenden, Bindung an Dinge, die wir gerade nicht lieben und die uns den Tag vergällen. Das Trachten des Menschen muß also darauf ausgerichtet sein, sich von all diesen Schrecklichkeiten zu lösen.
Der Tod ist keine Lösung, denn er löscht ja gerade das Edle aus, das uns doch auch noch erfüllt, die Weisheit, während er die schlimmen Aspekte lediglich transformiert, sie nicht etwa veredelt. Hier kommt nun die – neben der Weltabgewandtheit – zweite große geistige Neuerung der Upanischaden ins Bild: die Lehre von "Samsara", der Seelenwanderung, die Überzeugung, daß der Tod nicht etwa den Geist auslöscht, sondern ihn wie auch den Leib transformiert, und zwar eher ins Negative.
Die Seelenwanderung ist kein spannender Abenteuertrip der Seele durch alle möglichen Inkarnationen, sondern eine ständige Demütigung und Beschmutzung der Seele, eine horrende Entfremdung, der man sich verweigern muß. Es gilt, zum Kern, zum "Brahman" durchzustoßen, was also bedeutet: die einzelnen, zufälligen Welthaltigkeiten abzustreifen, die ewige Wanderschaft zu beenden, mit dem Brahman identisch zu werden. Und das wiederum heißt; Ich muß mein "Karma" verbessern! Davon und von nichts anderem hängt meine Glückseligkeit ab.
"Karma" heißt Werk und bezeichnet erstens das Insgesamt meiner irdischen Wollungen und Handlungen, zweitens den Standard an Weltüberwindung, den ich im Laufe meines Lebens erreiche. Das Karma, kann man auch sagen, ist das seelische Rangabzeichen, das nach meinem Tod darüber entscheidet, wo in der Hierarchie der Seelenwanderung ich eingeordnet bin und antreten muß, ob als verächtliche Laus oder als Reinkarnation eines erhabenen Weisen der Vergangenheit, der zu Lebzeiten schon ganz nah an der "Mokscha", der Erlösung von der Wanderung, dran war und auf dessen Karma ich aufbauen, auf dessen Schultern ich mich im zweiten (oder dritten oder n-ten) Leben stellen kann.
Solche Anschauungsweise – der Leser darf es Pankraz glauben – prägt das Leben der Inder auch heute noch, wenigstens das der Hindus, wie modern sie auch agieren. Sie äußert sich in der außerordentlichen, spontan ökologischen Bedachtsamkeit des indischen Bewußtseins, in der Achtung, die Tier und Pflanze als Mitgeschöpfe und mögliche Inkarnationen naher Verwandter und Freunde genießen, sie äußert sich aber auch in der Gleichgültigkeit, die man menschlichem Elend und menschlicher sozialer Not entgegenbringt und die jeden Besucher des indischen Subkontinents immer wieder erstaunt.
Da ist man etwa in Kalkutta in einen feinen Intellektuellen-Bungalow zum Dinner eingeladen, und es werden die subtilsten Gespräche geführt über Karma und den Schleier der Maya, über Schopenhauer und Nietzsche, über Goethe und Rabindranath Tagore; die meisten der bengalischen Gastgeber und Gäste deklarieren sich ausdrücklich als Sozialisten oder Kommunisten – und draußen auf der Straße, direkt vor der Tür des Bungalows, liegen irgendwelche Aussätzige und Unberührbare, und keiner der feinen Intellektuellen hat auch nur einen einzigen Blick für diese Elenden. Sie, die Elenden, sind ja selbst schuld an ihrem Elend, ihr Karma ist schwach entwickelt, sie stehen unter Umständen noch tief unter der glücklichen Laus in der Hierarchie des Seins, und niemand anders als sie selbst kann das ändern.
Es gibt in den Upanischaden und folglich auch im modernen indischen Bewußtsein keine Utopie, geschweige denn eine Sozialutopie, das heißt es ist den (meisten) Indern im Grunde völlig gleichgültig, ob "die Gesellschaft" als ganze je der Mokscha teilhaftig werden wird. "Die Gesellschaft" – das ist ja ein gänzlich unzulänglicher Begriff, der nicht das Geringste mit dem Brahman zu tun hat, ja, es ist im Grunde ein Gegenbegriff.
Das ganze hektische Trachten des Westens nach Verbesserung des materiellen Lebens ist in den Augen der Brahmanen eine Abkehr vom Eigentlichen, vom Brahman. Man reagiert darauf gegebenenfalls mit innerem Amüsement, auch mit nonchalantem Mitmachen – im Grunde aber hegt man nur äußerste Verachtung dafür. Auch auf der Buchmesse.