Das "Mozartjahr 2006" hat nun begonnen, und wie alles bei Mozart nähert es sich schnell seinem Höhepunkt. Schon am 27. Januar ist Stichtag, jährt sich der Geburtstag des Komponisten zum zweihundertfünfzigsten Mal. Danach kann es eigentlich nur noch abwärts gehen. Gedenkkonzerte sonder Zahl, Mozartkugeln satt. Die geplanten Mozart-Symposien und "Mozart-Workshops" stehen von vornherein im Zeichen der Langeweile und der Überflüssigkeit, denn über Mozart ist alles gesagt, alles erforscht.
Mozart war in der öffentlichen Erinnerung niemals "weg vom Fenster", wie etwa zeitweise Bach (um 1800) oder Beethoven (um 1950). Er gehört einfach zu unserem Leben dazu, und nichts wird sich je daran ändern. Es hat nie ernsthafte Kontroversen über Mozart gegeben, allenfalls behandelte man ihn bis zum Ersten Weltkrieg ob seiner "glücklichen Unbeschwertheit" manchmal etwas von oben herab.
Heute stellt man eher die "dämonischen Züge" im Schaffen Mozarts heraus, seine letztliche Undurchschaubarkeit und Koboldhaftigkeit. Mozart sei mitnichten ein "Liebling der Götter" gewesen, wie man früher gerne sagte, vielmehr eine fremde, ebenbürtige Kraft, mit der sich die Götter wohl oder übel abfinden und arrangieren mußten. Sie haben ihm nur eine kurze Frist auf Erden zugemessen, bis 1791, doch wie er diese kurze Frist ausfüllte, überstieg wohl alle göttlichen Ordnungsvorstellungen.
War Mozart ein Genie? Solche Bestimmung griffe zu kurz, denn unter "Genie" versteht man etwas Erwachsenes, vorab Vollkommenes, Wolfgang Amadeus indessen war nie erwachsen, und vollkommen war er nur insofern, als seine Werke aus eigenem Gesetz heraus vollkommen waren. Um vorgegebene Formen, die es zu "erfüllen" gälte, hat er sich nie gekümmert, er zerschlug sie nicht einmal, er spielte mit ihnen, wie ein Kind mit Bauklötzchen spielt. Was dabei herauskam, war keine "Formvollendung", sondern es waren gänzlich neue Formen, "Entelechien" gewissermaßen, an denen sich nun andere auszurichten hatten.
So war es mit den Sonaten, den Streicherquartetten, den Sinfonien, den Opern. Keine dieser Gattungen hat Mozart erfunden oder in revolutionär-grundstürzender Absicht umgewandelt, er hat einfach mit ihnen gespielt. Er nahm, was er vorfand, er war der Auftragskünstler par excellence, richtete sich nach den Wünschen seiner Dienstherren und Kunden, hielt sich selten an immanente Stringenz und Logik. Aber die Resultate seines Spiels hatten ihre ganz und gar eigene, überwältigende Logik. Das eben war das Dämonische an diesem Manne Mozart.
Ein Dämon ist Kind und Genie in einem. Er ist von Anfang an fertig, entwickelt sich nicht, und seinen Unternehmungen wohnt bei aller Perfektion und Außerordentlichkeit etwas Kindsköpfiges, Unernstes, ja, Unreflektiert-Kitschiges inne. Insofern passen die Mozartkugeln viel besser zu Wolfgang Amadeus als Symposien und Workshops. Und deshalb paßte Mozart so gut zu seinem bevorzugten Librettisten Lorenzo Da Ponte, der ein Kindskopf war und seine Textbücher als Wildwest-Filme avant la lettre anlegte (bevor er – nach Mozarts Tod – selber in den Wilden Westen emigrierte).
Nur zwei unverbesserlichen Kindsköpfen wie Mozart und Da Ponte konnte es einfallen, ihre Oper "Don Giovanni", eine finstere Verführungs- und Mordgeschichte, als dramma giocosa und opera buffa, also als heitere Unterhaltung, aufzuziehen. Ein großer Teil des Stücks besteht daraus, daß rachedurstige Volksmassen nach dem Verbrecher Don Giovanni fahnden, doch das hält sie überhaupt nicht davon ab, sich zwischendurch immer wieder zu Tanz und Spaß zusammenzufinden und sich wie im Karneval gegenseitig putzige Masken vor die Nase zu halten. Darauf muß man kommen.
Auch die berühmte Zentralpointe des "Don Giovanni": daß der Verbrecher die Friedhofsplastik für den von ihm einst Ermordeten frech zum Abendessen einlädt und daß die Bildsäule dann auch tatsächlich kommt und den Einladenden umgehend zur Hölle schickt, ist ja von einer tollen Komik, gegen die alles tragische Schlußgedonnere nicht ankommt. Sicher, diese Pointe stammt schon vom Schöpfer des Ur-Don-Juan, dem bitterernsten Mönch Tirso de Molina, aber die Art, wie Mozart und Da Ponte sie verkaufen, macht das kindlich Lesebuchhafte des Vorgangs erst richtig deutlich. Die Höllenfahrt gerät zum Comic-Strip, angstschlotternd und dennoch heimlich kichernd nachbuchstabiert vom Pausenclown Leporello.
Nun war das Rokoko, in dem Mozart und sein Da Ponte wirkten, bekanntlich selber eine Opera buffa, wo man Spaß und Ernst nicht mehr richtig auseinanderzuhalten verstand. Man lebte aus dem Fundus. Weiberherrschaft allenthalben, Masken- und Verkleidungsbetrieb bis zum Exzeß. Wolfgang Amadeus paßte da in vieler Hinsicht nahtlos hinein. Man könnte beinahe sagen: Der Dämon Mozart war nichts weiter als seine Zeit, in Musik gefaßt.
Doch das wäre natürlich nur die eine Hälfte, und zwar die unwichtige. Die eigentliche Sensation des Erscheinens von Wolfgang Amadeus Mozart liegt darin, daß er seine Zeit getreulich abbildete und sie dennoch transzendierte und unendlich überstieg. So wurde ihm der höchste Lorbeer zuteil, den ein Künstler je erringen kann. Er schuf für die Zeit und für die Ewigkeit gleichermaßen. Genau deshalb ist jeder seiner Takte ein dramma giocosa, verströmt Heiterkeit noch in der Verlorenheit.
Auch wir, läßt sich ohne weiteres konstatieren, leben heute in einer Don-Giovanni-Zeit. Maske und Mimesis bestimmen unseren Alltag. Man könnte es ein Rokoko ohne Anmut nennen. Solch eine Zeit könnte einen neuen Mozart gut gebrauchen. Er müßte sich nicht einmal unbedingt auf dem Gebiet der Musik zeigen, er müßte sich nur zeigen. Aber die Dämonen scheinen endgültig vertrieben.