Im Zusammenhang mit der Debatte um seine Waffen-SS-Zugehörigkeit hat Günter Grass geäußert, erst jetzt sei ihm bewußt, wie sehr deren Emblem – die doppelte Sig-Rune – als „Kainsmal“ wirke. Die Ansicht bleibt unwidersprochen. Das Abzeichen der SS, das auch die Waffen-SS auf ihren Kragenspiegeln, auf anderen Abzeichen, Fahnen und Wimpeln verwendete, fiel nach 1945 einer Verdammung anheim wie sonst nur das Hakenkreuz. Während die Bezeichnung „SS“ für „Schutzstaffel“ schon seit der Gründung dieser Organisation üblich war, wurde das Runen-Symbol erst 1929 eingeführt und erhielt noch später die endgültige, langgestreckte Gestalt. Die zweifache Sig-Rune unterschied sich in bezug auf die optische Wirkung deutlich von der einfachen, die nicht nur in der SA, sondern auch im Jungvolk, der Vororganisation der HJ, verwendet wurde. Die Interpretation lief normalerweise darauf hinaus, daß man dem „Sig“ den Symbolwert „Sieg“ zuordnete. Der Begriff „Rune“ stand ursprünglich für ein germanisches Schriftzeichen, wie es wahrscheinlich im 1. Jahrhundert nach Christus entstanden ist. Die ältesten Runennamen stammen aus dem 9. Jahrhundert und sind offenbar religiös neutralisiert worden. Viel spricht für die Annahme, daß Runen ursprünglich auch für Begriffswerte standen und zu magischen Zwecken verwendet wurden. Während des Mittelalters verschwand der Gebrauch der Runen, allerdings blieb ihre Bedeutung in Skandinavien bekannt, was erklärt, warum hier schon in der Vorphase der „Nordischen Renaissance“ eine intensive Beschäftigung mit den Runen begann und Mutmaßungen über ihre Herkunft angestellt oder ihre Ursprünglichkeit behauptet wurde. Die Verwendung des Wortes „Rune“ beim Rückgriff auf das Altgermanische verbreitete sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (so etwa im Fall von Friedrich Ludwig Jahns „Runenblättern“), aber erst seit den 1890er Jahren wurden Runen als völkische „Auszeichnungsschrift“ benutzt, die sich deutlich von den „wälschen“, also lateinischen Buchstaben unterschied und noch die Fraktur an Authentizität überbot. Vor allem in Schweden und in Deutschland begann man damals Inschriften oder Zeitschriftentitel mit übertragenen Runen zu versehen, das heißt man benutzte sie nach der Lautbedeutung, die die entsprechenden lateinischen Buchstaben besaßen. Außerdem verwendeten einige völkische Organisationen schon Runensymbole. Diese Tendenz wurde im Reich und in Österreich weiter gefördert durch die Ariosophie, die eine Synthese aus völkischer Ideologie und Okkultismus schuf, in deren Zentrum oft die Runenspekulation stand. Dabei war die den einzelnen Runen zugeschriebene Bedeutung häufig, aber nicht immer frei erfunden. Seit der Jahrhundertwende hatten sich Runen in der Jugendbewegung verbreitet, nach dem Ersten Weltkrieg tauchten sie auch in Freikorps, Wehrverbänden und verschiedenen völkischen Parteien auf. Die Werbewirkung war aber deutlich begrenzt. Für die esoterischen Aspekte interessierte sich immer nur eine Minderheit, in anderen Fällen mußte die Ähnlichkeit mit Buchstaben oder die allgemeine Anmutung genügen. Das erklärt, warum die Menge der als politische Symbole verwendeten Runen deutlich begrenzt blieb. Im wesentlichen handelte es sich um: die Hagal-Rune, die das Allumfassende, aber auch die Sonne bedeuten sollte; sie war vor allem unter völkischen Lebensreformern der zwanziger Jahre beliebt; die Man-Rune, die für den Menschen oder das Leben gesetzt wurde; als Organisationsabzeichen tauchte sie in der Zwischenkriegszeit bei der Siedlungsbewegung der Artamanen auf, sie spielte auch eine Rolle als Zeichen für „Geburt“, eine gestürzte Man-Rune dementsprechend als Zeichen für „Tod“, und fand sich solchermaßen auf Grabsteinen oder Anzeigen verwendet; die Odal-Rune, die für den Besitz, das Allodialgut, stand und in der Zwischenkriegszeit vor allem die „Blut und Boden“-Idee repräsentierte, nach 1933 wurde sie als Abzeichen des Reichsbauernstandes eingeführt; die Tyr-Rune als Sinnbild der „Tat“-Bereitschaft und schließlich die Sig-Rune. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb die Verwendung der Hagal-, der Man-, der Odal- und der Tyr-Rune im allgemeinen unbeanstandet. Erst mit der Verschärfung des Paragraphen 86 bzw. 86a StGB änderte sich das. Die Benutzung der Sig- respektive der doppelten Sig-Rune galt dagegen immer als strafbar. Von einem „Kainsmal“ zu sprechen, ist trotzdem abwegig. Das Zeichen, das Gott an Kain machte, diente dessen Schutz – damit ihn keiner zur Strafe für den Brudermord erschlüge -, nicht seiner Brandmarkung.
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