Seit 1970 in Paris hat es solch eine gewaltige Ausstellung zum Werk des französischen Malers Henri Matisse nicht gegeben, wie sie derzeit noch in der Düsseldorfer Kunsthalle zu sehen ist. Thematisierte man in Deutschland bislang bloß Einzelaspekte, entfalten die Düsseldorfer nun auf drei Etagen ein überaus großzügiges Panorama seiner Kunst, eine elegante Streuung von Kostbarkeiten. Sie bieten dem Flaneur einen bequemen Parcours, ideal sich umfassend zu orientieren. Matisse ist rar in deutschen Sammlungen. So bedurfte es hundert Leihgebern aus Ost und West. Auch Rußland ist dabei, doch leider ohne die Glanzstücke der Eremitage. Trotzdem gelang ein imposanter Querschnitt durch alle Schaffensphasen und künstlerischen Medien: Er umfaßt 100 Gemälde, 60 Zeichnungen, 25 Skulpturen, zahlreiche Druckgraphiken und reicht bis zu den Papierschnitten des Alters. Entsprechend gewaltig ist der Andrang; NRW kann die Ausstellung schon jetzt als satten Erfolg verbuchen. Eine Kunst ohne sich aufdrängende Gegenstände Matisse entwirft ein Modell künstlerischer Modernität, das radikal experimentiert mit Formen, bildnerischen Strategien und trotz des antinaturalistischen Bruchs großer Tradition von weither verbunden bleibt. Innovativ und doch harmonisch wird eine Idee von Schönheit auratisch zelebriert. Matisse bekennt: „Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände.“ Das provozierte Kunstkritik im Sinn Adornos. So galt er vielen als „perfektionierter Ausdruck von bürgerlicher Saturiertheit, die die Existenz von Krieg und Krise leugnet und sich eskapistisch in die Refugien von Schönheit und Dekoration flüchtet“ (Müller-Tamm) – war also Kitsch. Solch abschätziges Urteil verkennt indes die geistige Tiefe und formale Komplexität des Werks, das hermetischer Ästhetik sich ebenso entzieht wie populärer Konsumierbarkeit. Es rühmt vielmehr das ewige Sein als Glanz und heitere Lebenskunst. Anstößig ist seine Weigerung, sich zwanghaft einer Teleologie der „Moderne“ als linearem Prozeß zu unterwerfen, und „revolutionär“ die Relativierung immanenter Zeit, des Dogmas vom historisch „Irreversiblen“. Matisse verschmilzt dagegen Linie und Kreis, Entwicklung mit Zyklus. Synchron sind die Kulturräume der Menschheit, sie bilden unseren ideellen Erfahrungsbestand. Der läßt sich ausschöpfen, bleibt immer offen und kreativ wandelbar. Das Resultat des Matisse führte nun zu einer Bildkunst, die, spirituell tiefgründig, den Segen der Schöpfung als mediterranes Licht symbolisch gestaltet hat – ein ganz und gar nicht triviales Programm. Sein Paradigma erscheint in den Schlüsselwerken von 1905. Damals trat Matisse mit seinen Freunden im Salon auf, als Gruppe der „Fauves“. Zeitgleich mit den Expressionisten stürmen die französischen „Wilden“ gegen das 19. Jahrhundert, ja das neuzeitliche Bildmodell. Sie brechen mit den Impressionisten, ihrem Subjektivismus, der letzten Stufe europäischer Realitätsgier. Die Malerei fertigt kein „Abbild“, sie selbst ist geistige Wirklichkeit, ist nicht „empirisch“. Doch während die Deutschen ihre Visionen ekstatisch erleben, konturiert man westlich Lebensfreude und Harmonie. Idealtypisch gestaltet so Matisse Werke wie „Luxus, Stille, Wollust“, arkadische Szenen: nackte Figuren am Meer in sonnendurchfluteter Landschaft. Hier zeigt sein Genie sich angelegt: durch nationalen Hintergrund, kunsthistorische Zeitsituation und die persönliche Wendung des Malers. Französische Lebensart grundiert das Phänomen Matisse mit Ordnungssinn und Klarheit, der Klassizität, dazu Grazie und désinvolture. Kunsthistorische Wurzeln liegen in der großen, ungebrochenen Fläche Gauguins, der reinen Farbe Seurats, der expressiven Spontaneität van Goghs. Ureigen schließlich die Wendung des Meisters zum Süden, zum Mittelmeer. Von dessen drei Kulturen gehört er nach Herkunft dem lateinischen Westen zu. Außereuropäisch dagegen die anderen beiden: Orthodoxie und Islam schenkten ihm die „orientalische Erleuchtung“. Deren Bildmodelle: christliche Ikone, islamische Miniatur und Ornamentik verarbeitet er produktiv. Deren Prinzipien: reine Farbe, raumlose Fläche, Bedeutungsvektor und Arabeske sind allesamt Chiffren des Imaginären. Matisse nennt sie dem „religiösen Lebensgefühl“ und kosmischen Raum als kongenial. „Ich gebe ein Fragment und führe den Betrachter durch den Rhythmus dazu, die Bewegung, von der er nur einen Teil sieht, fortzusetzen, so daß er sie als Totalität erlebt.“ Daher der Reiz des Ornaments im unendlichen Rapport, hat es doch die Funktion, „mit einem Zeichen die Gesamtheit der Dinge zu repräsentieren“. Thematisch geschieht das unspektakulär. Akt, Porträt, Stilleben, Atelier sind die Materien und immer wieder: die Frau im Interieur. Weiblichkeit hat Matisse inspiriert. Sein Werk zeigt Frauen als Lesende, als Figur, als Bild im Bild, am Fenster, auf dem Balkon, vermittelnd das Innen und Außen, als exotische Orientalin, mit Silberstift hauchdünn geritzt und ornamental der Fläche einbeschrieben. Schweigend war das Heilige schon immer dagewesen Gemalt an der Riviera! Schon 1904 kommt er hierher, seit 1917 dann in Nizza. Dieses Licht erfüllt seine Balkonzimmer mit ihren Figuren. Er sagt, nicht Stilleben oder Landschaft interessiere ihn, vielmehr die Figur. Von deren Metamorphosen im Raum erzählt sein Werk, sie fokussiert das Düsseldorfer Interesse. Hier freilich drängt man ganz zur postmodernen Lesart. Es geht nicht mehr um die „Gestalt“, es geht um „Figurationen“, flüssig und grenzenlos, offener Prozeß von „Zeichen“. Wie heute in Tanz und Theater werden Körper transformiert zur „durchlässigen Membran“, zum Tausch von Innen und Außen, für Eigenes und Fremdes: Travestien, kein „Wesen“, nur mehr noch „Maskeraden“. Man predigt uns vom angeblichen „Relativismus“ dieser Kunst und dem Triumph der condition moderne. Das bleibt bezweifelbar. Zwei Eckdaten hält die Schau bereit. Mit ihnen beginnt und endet auch das Lebenswerk des Meisters, das maximale Verdichtung suchte. In der „Bretonischen Serviererin“ (1896) setzt er die niederländische Schule fort. Das beiläufige Tischgedeck mit Brot und Wein atmet stille Festlichkeit im diskreten Farbenspiel. Tiefe Ruhe wird frei, sie huldigt dem Genius Chardins. Am Ende steht der Papierschnitt „Blauer Akt“ (1952), dessen Stilreduktion die Spannung von Fläche und Kontur in eine kühne Bildformel faßt. Daneben freilich die Kapelle von Vence (1948-51), die keine Ausstellung ersetzt. Matisse hat hier – so sein Vermächtnis – das Heilige enthüllt. Schweigend war es schon immer dagewesen. Foto: Henri Matisse, „Nu bleu, I“ (1952): Spannung von Fläche und Kontur Die Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Grabbeplatz 5, in Düsseldorf ist noch bis zum 26. Februar täglich außer montags von 10 bis 20 Uhr zu sehen.