Zu den drei Großen gehört sie nicht, und eigentlich ist sie im Stadtbild der alten Hansestadt eher unscheinbar – ein hoher Kirchturm fehlt. Dennoch ist die Heiligen-Geist-Kirche zu Wismar immer wieder Schauplatz aufsehenerregender Veranstaltungen. Schon Friedrich Wilhelm Murnau wählte 1921 den von mittelalterlichen Backsteinfassaden und -mauern umgebenen Kirchhof als eine seiner Hauptkulissen für den legendären Stummfilmklassiker „Nosferatu“. Seither ist die ehemalige Hospitalkirche Anlaufpunkt zahlreicher Künstler, und auch die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, nach eigenen Angaben das drittgrößte Klassikfestival Deutschlands, starten hier alljährlich in die Sommersaison. Am vergangenen Samstag war es wieder soweit. Vor ausverkauften Bänken spielte die NDR Radiophilharmonie unter Leitung von Eiji Oue das große Eröffnungskonzert. Für den Auftakt hatte die Festspielleitung das erste Konzert für Violine und Orchester a-Moll op. 77 von Dmitri Schostakowisch, dem im stalinistischen Rußland als „volksfeindlich“ verfemten Komponisten ausgewählt, der in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag feiert. Dies erwies sich als ausnehmender Glücksgriff, der sich zu einem ersten Höhepunkt der Saison entwickelte. In dem ebenso lyrisch wie schroffen Meisterwerk trat der junge britische Stargeiger Daniel Hope, seit 1998 Solisten-Preisträger der Festspiele MV, in einen spannungsgeladenen Dialog mit dem Orchester. In ausschweifenden Soli elektrisierte er mit brillanter Virtuosität das Publikum. Sein präzises und klares Spiel wechselte meisterhaft zwischen singender Leichtigkeit, überbordender Schwermut und abrupter dissonanter Härte. Das Orchester antwortete in gleichberechtigtem Wettstreit bald mit kämpferischer Dramatik, bald mit tänzerischem Übermut, bald mit melancholischer Breite und führte so zur Auflösung der in den Geigensoli angelegten Stimmung oder im Gegenteil zu deren Vollendung. Entsprechend frenetisch applaudierte das Publikum nach dem letzten Ton. Nach der Pause stand die populäre 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven auf dem Programm, die der japanische Chef der NDR-Radiophilharmonie mit ausgreifendem Gestus energisch und pointiert dirigierte. Das kraftvoll interpretierte Eingangsmotiv und das opulente Finale wirkten ein wenig zu voluminös für den niedrigen, mit einer Holzdecke abgehängten Kirchraum. Dennoch beeindruckte das Orchester auch in der „Schicksalssymphonie“ durch einen sehr farben- und facettenreichen Klang, in den sich die Fagottsoli harmonisch einfügten. Wenngleich sich der außerordentliche Spannungsbogen des ersten Konzertes nicht ganz bis zum Ende des Abends aufrechterhalten ließ, haben die Festspiele doch einen glanzvollen Auftakt in ihren sommerlichen Konzertreigen gesetzt. Unter dem Motto „Auf zur musikalischen Landpartie!“ laden sie nun noch bis zum 16. September zu über 100 Konzerten in idyllisch gelegene Schlösser, Scheunen, Kirchen und Parkanlagen in ganz Mecklenburg-Vorpommern ein, und auch die Heiligen-Geist-Kirche zu Wismar hat nicht zum letztenmal ihre Pforten geöffnet. Informationen zum Programm der Festspiele im Internet unter www.festspiele-mv.de oder Tel.: 03 85 / 59 18 50. Daniel Hope (Foto)
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