Die Kindheits- und Jugenderinnerungen Joachim Fests gehören zu den mit Spannung erwarteten Neuerscheinungen dieses Herbstes. Tatsächlich handelt es sich um ein sehr persönliches Buch, in dem viel mitgeteilt wird, was Herkunft und familiäre Umstände angeht, kleine Geschichten über den erfolgreichen Großvater mütterlicherseits, dem der Berliner Vorort Karlshorst seinen Aufstieg verdankte, die unverheiratete, leichtlebige Tante, die sanfte, in der Not aber standhaft-strenge Mutter oder den bewunderten älteren Bruder. Ganz im Mittelpunkt steht der Vater, Hans Fest, ein Mann, in dem sich preußische Tradition – nicht „Stockpreußentum“, wie er betonte – und Diaspora-Katholizismus zu einer bemerkenswerten Synthese verbanden. Hans Fest gehörte zu jenen Zentrumsmitgliedern, die beim Zusammenbruch des Kaiserreichs die Gelegenheit gekommen sahen, einen neuen Staat aufzubauen und den bis dahin von der Macht ausgeschlossenen politischen Katholizismus in die Verantwortung zu führen. Er wußte um die Defizite der Weimarer Republik, glaubte aber, daß die Vorbehalte mit der Zeit abgebaut und das demokratische System stabilisiert würde. Als diese Hoffnung trog, wich er nicht zurück und wandte sich auch nicht ab, sondern versuchte sich gegen jene Kräfte zu stemmen, die die Republik zerstören wollten. Er unterstützte die Kanzlerschaft Heinrich Brünings, der ihm vom Wesen her nahestehen mußte, und als einer der Verantwortlichen des Berliner „Reichsbanners“ führte er nicht nur den Kampf gegen militante Kommunisten, sondern forderte sogar noch nach der Machtübernahme Hitlers zum Widerstand auf. Das NS-Regime beendete die Karriere von Fest senior im Schulverwaltungsdienst, er seinerseits war zu keiner Unterwerfung bereit und fügte sich in die Entlassung, obwohl das Verfemung und sozialen Abstieg nach sich zog. Joachim Fest gelingt es sehr gut, die Stimmung im Elternhaus während der Auseinandersetzung zwischen Mutter und Vater über diesen Entschluß wiederzugeben. Während die Mutter bereit war, sich pragmatischer zu verhalten, und zum Kompromiß riet, den die Ohnmächtigen zu allen Zeiten mit den Mächtigen eingehen mußten, sprach der prinzipienstolze Vater das titelgebende „Und wenn alle – ich nicht“. Was dabei etwas kurz kommt, ist die Erklärung dieser Art von Widerständigkeit, die Verbindung von religiösen, eigentlich antimodernen, und demokratischen Elementen in einem Milieu, das seit langem in oppositioneller Haltung geübt war. Deutlich wird dagegen, welche Probleme es für einen Heranwachsenden nach sich zog, der mit seinen Geschwistern „gegen die Welt stand“, wie es sein älterer Bruder formuliert hatte, und keinen Anteil am Enthusiasmus der jungen Generation nahm, die als erste im Nationalsozialismus aufwuchs. Fest erlebte zwar auch sonst Beispiele für die Zähigkeit des Bürgerlichen, vor allem in der Schule, deren Lehrer eben nur ausnahmsweise „Parteigenossen“ und im Normalfall konservative Männer waren. Aber die Isolation im größeren Ganzen bekam er ständig zu spüren. Die Flucht in die Bücher lag insofern nahe, die Schaffung einer Gegenwelt aus Überlieferungen, die zwar geduldet, aber nicht erwünscht waren. Die Diskrepanz zwischen dem Zuhause und dem Draußen mußte sich nach Beginn des Weltkriegs naturgemäß verstärken. Für Hans Fest war es schon „Hitlers Verbrecherkrieg“, als die Masse der Deutschen noch von den militärischen Erfolgen der Wehrmacht begeistert war. Er glaubte nicht, daß es Gottes Plan sein könnte, ein solches System siegreich zu sehen. Im Zusammenhang mit Grass‘ spätem Geständnis wurde auf den in manchem ähnlichen Fall Fests hingewiesen, der sich freiwillig zur Wehrmacht melden wollte, um der Rekrutierung durch die Waffen-SS zu entgehen. Er sah erst davon ab, als der Vater ihm eindringlich vor Augen hielt, welche moralischen Konsequenzen ein solcher Schritt nach sich ziehen konnte: „‚Diese Entscheidung‘, schloß Hans Fest, ‚mußt du Gott überlassen oder, wenn dir das lieber ist, dem Schicksal. In deiner Hand jedenfalls liegt sie nicht, auch wenn du das annimmst.'“ Daß seine Einschätzung, wie es schließlich kommen werde, zutraf, zeigte die Endphase des Krieges. Bedrückend, aber nur Variante des Kollektivschicksals, war der schwere Soldatentod des älteren Bruders, der eigene Militärdienst kurz vor Schluß, Vertreibung und Flucht der Familie, Gefangenschaft – die eigene und die des Vaters -, Elend und verzweifeltes Hoffen auf Normalität im Chaos der ersten Nachkriegszeit. Typisch war auch die Mischung aus Irritation und Faszination gegenüber den Ausdrucksformen der amerikanischen Massenkultur, die Fest schon im Lager begegneten. Mit der unmittelbaren Nachkriegszeit enden die Erinnerungen. Kurz vor seinem Tod soll Fest bedauert haben, daß ihm nicht die Möglichkeit bleibe, weitere Bücher zu schreiben. Tatsächlich fehlt seine Biographie der erwachsenen Jahre, als er zu einem der einflußreichsten Publizisten und Historiker der Bundesrepublik aufstieg. Man hätte dann so oder so mehr Gelegenheit gehabt, einen Blick auf die Persönlichkeit Fests zu werfen. Womöglich hätte dann das Votum, er habe immer alles daran gesetzt, „dem Meinungsstrom zu widerstehen und nicht einmal anfällig dafür zu sein“, etwas weniger selbstgefällig geklungen. Vielleicht war das aber auch ein Grund, sich auf diese Lebensphase zu konzentrieren und ein Buch zu schreiben, das vor allem seinem Vater ein Denkmal setzt. Joachim Fest: Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006, gebunden, 367 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro
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