Wien im März 1901: Die Aufregung war beträchtlich, als die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahmung und „Vernichtung der vorfindlichen Exemplare“ der jüngsten Ausgabe des Ver Sacrum beantragte. Die Zeitschrift verstand sich als Sprachrohr der Wiener Secession, einer Gruppe junger Künstler, Architekten und Kritiker, die in obsessiver Weise und auf hohem künstlerischen Niveau im Widerstreit mit der Obrigkeit Tabuthemen wie Sexualität und Macht, Homoerotik und Geschlechterkampf aufgriff. Mit der Reproduktion diverser Aktzeichnungen von Gustav Klimt hatte sie die Grenze des gesellschaftlich Sanktionierten jedoch überschritten und gleichzeitig radikal mit der Tradition der allegorisch oder historisch verschleierten Aktdarstellung gebrochen. Die Konfrontation mit einer ungeschminkten Sicht auf die Wirklichkeit, auf Eros und Tod, Schmerz und Vergänglichkeit, die jenseits aller Fin-de-siècle-Romantik weit über die ihr nachgesagte „Decadence“ hinausging, stieß daher zunächst auf eine protestierende Wiener Gesellschaft. Es war vor allem Klimts Absage an „die Entrücktheit der Historienmalerei wie auch an die Utopie der Allegorie“ (Tobias G. Natter), die ihn zu einer Neupositionierung des nackten Körpers finden ließ, der am Ende nur noch auf sich selbst verwies. Vor den gesellschaftspolitischen Hintergründen des frühen 20. Jahrhunderts rückten seine Bilder die eigentliche Radikalität des Aufbruchs in die Moderne in den Vordergrund, zielten jedoch nicht minder auf das Rätselhafte und Unbegreifliche des Eros ab. Diese fortschrittskritische Seite des Künstlers, die später immer stärker zum Ausdruck kommen sollte, wurde jedoch sehr lange viel zu wenig beachtet. Die Ausstellung „Die nackte Wahrheit – Klimt, Schiele, Kokoschka und andere Skandale“ konfrontiert den Besucher als erstes mit dem Bild „Nuda Veritas“, auf dem eine nackte Frau mit wallenden roten Haaren dem Betrachter einen Spiegel vorhält. Klimt hatte es bereits 1899 als Sinnbild der „Nackten Wahrheit“ gemalt. Der Künstler habe vor allem sich selbst treu zu bleiben: „Kannst Du nicht allen gefallen durch Deine That und dein Kunstwerk – mach es wenigen recht. Vielen gefallen ist schlimm“, zitiert er unmißverständlich Friedrich Schiller. Drei Jahre später griff er mit seinem Gemälde „Goldfische“ erneut frontal den herrschenden Zeitgeist an: Das Bild zeigt drei nackte Damen, und eine rothaarige Schöne streckt dem Betrachter unverblümt ihr üppiges Hinterteil entgegen. „An meine Kritiker“ lautete der ursprüngliche Titel, und der Aufruhr war wiederum gewaltig. Adalbert F. Seligmann, Kunstkritiker der Neuen Freien Presse, sah gar „Entartung“ und „Pornographie“ in der Wiener Internationalen Schwarz-Weiß-Ausstellung, auf der Klimt mit 98 Blättern vertreten war. Zwar beherrscht Klimt die Frankfurter Ausstellung mit über 180 Meisterwerken der österreichischen Kunst der Jahrhundertwende, aber auch Künstler wie Egon Schiele, Oskar Kokoschka, Richard Gerstl und Anton Kolig kommen nicht zu kurz. Anders als bei Klimt präsentieren sich Schieles weibliche Akte jedoch nicht als gefügiger Augenschmaus, sondern zeigen irritierend schamlos ihren eigenen erotischen Appetit. Mürrisch-resolut ist es beispielsweise seiner „Liegenden Frau“ ganz offensichtlich ziemlich egal, ob ihr Leib die erotischen Visionen des Betrachters anregt oder nicht. Wo Klimt noch im ahnungsvoll Ungefähren schwelgt – wofür exemplarisch sein 1907 entstandenes Schlüsselwerk „Danae“ steht, die nach der Mythologie von Zeus in Gestalt eines Goldregens geliebt wird -, setzt Schiele gestochen klar und gnadenlos sardonisch seine eigene und die fremde Sexualität ins Bild. Und während bei Klimts „Danae“ der Eros gleichsam zur Ikone wird, indem der Künstler das Fleisch in eine ornamentale Chiffre und damit in ein Kunstwerk verwandelt, dessen üppige Schönheit und unbegrenzter Reichtum die Nacktheit fast vergessen lassen, drücken Anton Koligs sitzender Jünglingsakt „Am Morgen“ und mehr noch die Werke von Richard Gerstl mit ihren riskanten anatomischen Details – diverse der dargestellten weiblichen Figuren sind mit ihren Händen verzückt im eigenen Schoß beschäftigt – weniger eine grenzenlose Huldigung an die Sinnlichkeit aus, als vielmehr die Visualisierung psychosexueller Triebimpulse. Kolig etwa sah in seinen Bildern „Wunschfenster einer unfrohen, einsamen Seele, welche sich nach Gott sehnt oder nach dem Freunde als dessen Ebenbild“. Mitunter verglich er gar Malen und Gemaltwerden mit einem „geistigen Coitus“ und gestand, daß er „beim Zeichnen über den menschlichen Körper streicht und streichelt wie über eine Landschaft“. Anders als Klimts Bilder und erotische Zeichnungen, die das selbstvergessene Begehren in den Vordergrund stellen, lotete Schiele die Spannung zwischen den Geschlechtern aus und zeigte auch das Morbide, Lasterhafte und Zotige einer Figur. Seine Kunst stand jedoch auch im Mittelpunkt der sogenannten Neulengbach-Affäre, die ihn gar für einige Wochen ins Gefängnis brachte, nachdem er einer Vierzehnjährigen, die von zu Hause ausgerissen war, Unterschlupf gewährt hatte. Zwar ließ man den Vorwurf der Kindesentführung und des sexuellen Mißbrauchs wieder fallen, aber eine „anstößige“ Zeichnung, die von zwei Beamten in seinem Schlafzimmer entdeckt wurde und ein ganz junges, nur am Oberkörper bekleidetes Mädchen darstellte, übertrat nach Auffassung der Justiz die juristische Grenze des Ausstellbaren. Außerhalb der Karikatur und der pornographischen Subkultur – Felix Saltens anonym geschriebener Pornoroman „Josefine Mutzenbacher“ machte gerade in Wien beim bürgerlichen Publikum Furore – waren Eros und Sexualität in der österreichischen Kunst noch niemals zuvor so unverhohlen ins Bild gekommen. Auch Oskar Kokoschka hatte seine Karriere in dieser Zeit begonnen, und die Ausstellung präsentiert seine schönsten Bilder jener Jahre, beispielsweise das Porträt von Alma Mahler als Mona Lisa. Sein Selbstbildnis mit kahlgeschorenem Kopf, auf dem der Künstler mit der Linken auf eine klaffende Brustwunde verweist, wollte er als Kritik am katholisch-barocken Milieu verstanden wissen, ist es doch einem Leidensgestus aus der christlichen Bildüberlieferung entnommen. Einer seiner künstlerischen Nachfolger, Max Oppenheimer, ist ebenfalls mit einem Selbstporträt als Akt vertreten. Auch hier verweist die klaffende Wunde an der Seite auf die Typologie der Christusfigur in der Kunst. Sakral-enthoben ist diese Kunst jedoch nicht wirklich verletzend, selbst dort nicht, wo sie Tabus bricht. Vielleicht liegt gerade darin ein wichtiger Grund für die Faszination, die bis heute ungebrochen von der Kunst der Wiener Jahrhundertwende ausgeht. Gustav Klimt, „Danae“ (1907): Im ahnungsvoll Ungefähren schwelgen G. Klimt, „Nuda Veritas“ (1899) Die Ausstellung ist noch bis zum 24. April in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle, Römerberg, zu sehen. Info: 069 / 29 98 82-0